Die Geschichte von Europa begann streng genommen mit einem Foulspiel. Hätte der Schiedsrichter sehen müssen, denn dieses Spiel lief ja so: Europa war die Tochter des Königs Agenor und seiner Gattin Telphassa aus Phönizien. Sie war offenbar ziemlich gut aussehend, jedenfalls so sehr, dass sich der alte Schwerenöter Zeus in sie verguckte.
Weil dessen Frau Hera den Hang ihres Gatten zu ehelichen Schmutzeleien aber mittlerweile kannte, passte sie ziemlich genau auf. Also verwandelte sich Zeus – Vorteile des Gott-Seins! – einfach in einen Stier und näherte sich so in einer ganzen Herde der nichts ahnenden Europa an, die friedlich am Strand von Sidon spielte – sich alsbald aber auf dem Rücken des Zeus-Stiers wieder fand, der sie bis nach Kreta entführte, wo er sich erst in seine ganz normale göttliche Gestalt zurück verwandelte.
Spätestens da hätte es zumindest eines Videobeweises bedurft, um diese ganze faule Sache aufzuklären. Aber an derlei schaurige Aspekte des Europa-Mythos mag natürlich niemand mehr denken, wenn die Europameisterschaft am 11. Juni beginnt – und als erste überhaupt, im 60. Jubiläumsjahr des Wettbewerbes, entlang des ganzen Kontinents (und streng genommen darüber hinaus) ausgetragen wird, in elf Ländern, von Russland bis Deutschland. Und dass lieber jeder in die Zukunft schauen möchte als in die foulspielende Vergangenheit, ist auch gut so, denn Europa kann eine Art Neuanpfiff gerade wirklich gebrauchen.
Migrationskrise, Brexit, Corona: Zuletzt folgte in Europa Krise auf Krise
Was hat es zuletzt nicht alles für böse Foulspiele in und an der europäischen Sache gegeben? Erst kam die Eurokrise, in welcher der ganze Kontinent und sein Gebilde auseinander zu fliegen schien. Der schloss sich fast nahtlos die Migrationskrise an, während der sogar Papst Franziskus, wenig barmherzig, den europäischen Kontinent mit einer erschöpften unfruchtbaren Großmutter verglich.
Dann waren da noch der Brexit, die ständigen Auseinandersetzung mit Russland. Und kaum schien eine Krise mal überwunden (oder eher: beherrschte nicht mehr so die Schlagzeilen), schlug Corona zu - und zeigte, dass es mit europäischem Geist und europäischer Solidarität rasch nicht mehr so weit hin ist, wenn es um den eigenen Piks geht. Rein zahlenmäßig führte uns diese Pandemie mal wieder vor Augen, wie klein wir Europäer doch letztlich vor den großen Weltkrisen wirken, so dass wir diese eigentlich nur gemeinsam in Europa bewältigen können (auch wenn das, um neue Debatten zu befeuern, dann etwas länger dauert).
Ausgerechnet jetzt also diese Jubiläums-EM? Kann sie zu einem neuen europäischen Gemeinschaftsgefühl beitragen? Vermag sie zu einer Art europäischem Sommermärchen zu avancieren?
Gemeinsam jubeln - wie geht das noch mal?
Bereit für ein ausgelassenes Märchen wären die Menschen quer über den Kontinent ganz sicher, sie haben ja viel zu lange zuhause gesessen, sich nicht rausgetraut, nicht raus gedurft. Es stellen sich vor dem Turnier ganz grundsätzliche Fragen: Gemeinsam jubeln, jemanden gar jubelnd umarmen - wie geht das noch mal? "Public Viewing", am besten in großen Trauben oder gar auf Fan-Meilen, ist das überhaupt noch vorstellbar? Und, ganz generell: will man ausgerechnet jenen Spitzenfußballern zujubeln, die in der Krise immer noch weiter spielen durften, und sich - man denke nur an unseren FC Bayern und die arg verwöhnten Klagen seiner Bosse - vom normalen Fan meilenweit entfernt schienen? Schließlich, mal ganz deutsch gedacht, erwartet man gerade vom deutschen Team gerade märchenhafte Leistungen?
Dass Deutschland nicht mehr als Favorit gilt - ist das schon europäische Solidarität?
Aber ab dem 11. Juni wird es vermutlich wie immer sein bei großen Fußball-Turnieren: wenn es endlich losgeht, fiebern doch alle mit, ob sie wollten oder nicht. Vielleicht ist es sogar ganz gut - Stichwort: europäische Solidarität und europäische Spannung - , dass nicht mehr die großen Deutschen als die großen Favoriten gelten, sondern eben auch die kleinen Portugiesen (immerhin Titelverteidiger), oder die stolzen Franzosen, oder gar die Brexit-Briten (die doch gewiss Elfmeter geübt haben, oder?)
Und wenn dann nicht nur der Ball rollt, sondern auch die Jubelwellen von Nord nach Süd, von Ost nach West schwappen, dann sind diese vielleicht doch ein Zeichen, dass wir - endlich - im Sommer der Hoffnung angekommen sind. In einem Sommer, dessen Zauber wir vermutlich noch ganz anders werden genießen können, weil wir jetzt dank Corona (leider) eben auch wissen, dass das alles nicht selbstverständlich ist: zusammen zuschauen, zusammen anfeuern, mit vielen anderen Menschen, mit anderen Europäern. So eine Einsicht ins eigene Glück ist dann auch gut für Europa. Also vergessen wir einfach mal die Sache mit dem Foulspiel in der Antike. Das ging ja übrigens laut griechischer Mythologie auch durchaus gut aus. Denn die so trickreich angebahnte Verbindung zwischen Zeus und Europa brachte immerhin drei Kinder hervor - und ein ganzer Erdteil wurde, einer Verheißung der Schönheitsgöttin Aphrodite folgend, nach Europa benannt. In diesem Sinne: schöne Spiele, liebes Europa!
Dieser Artikel ist Teil der EM-Beilage unserer Redaktion, die am Dienstag, 8. Juni, unserer Zeitung beiliegt.
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