Der Countdown läuft und im Breisgau grübelt der Bundestrainer. Inmitten der Entrüstung über das historisch schlechte Auftreten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft beim 0:6-Debakel in Spanien hat sich Joachim Löw wieder einmal zurückgezogen.
So viel Zeit wie bei seiner WM-Klausur im missratenen Sommer 2018 hat der DFB-Chefcoach diesmal aber nicht. Während Jürgen Klopp und Hansi Flick als mögliche Nachfolgekandidaten schon freundlich abwinkten, soll der 60-Jährige dem DFB-Präsidium bis zum 4. Dezember eine überzeugende Perspektive für das EM-Jahr anbieten. "Einen Freifahrtschein für Jogi Löw gibt es nicht", zitierte die "Bild"-Zeitung ein Präsidiumsmitglied nach der Schalte des entzweiten Entscheidergremiums am vergangenen Freitag. Gespielte Strenge? Oder ein ernstes Signal für den Rekord-Bundestrainer?
DER RÜCKHALT
Der Deutsche Fußball-Bund steckt tief im Dilemma. Viel weiter sinken können die Beliebtheitswerte des Bundestrainers und damit automatisch des Verbandsriesen nicht. Mehreren Umfragen zufolge glaubt nur noch ein Bruchteil der Fans daran, dass Löw irgendwie den Umschwung schaffen kann. Nur eine herausragende EM scheint das Stimmungsbild umkehren zu können. Das Halbfinale gilt trotz der Hammergruppe mit Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Co-Gastgeber Ungarn längst als Minimal-Anforderung.
Zuspruch für Löw kommt aber aus dem Profifußball und vor allem von alten Weggefährten. "Jogi Löw braucht keine Ausreden", sagte der frühere Nationalspieler Per Mertesacker im ZDF-"Sportstudio". Eintracht Frankfurts Sportvorstand Fredi Bobic riet, "nicht gleich in Panik" zu verfallen. Leverkusens Sportchef Rudi Völler befand bei "Sky90" am Sonntag: "Ich hoffe natürlich, dass es ein einmaliger Ausrutscher war und denke auch, dass der Jogi das noch in den Griff bekommt."
Als direkter Vorgesetzter hat DFB-Direktor Oliver Bierhoff seinem Trainer schnell das Vertrauen ausgesprochen - noch. Kurioserweise soll es Bierhoff sein, der kurz vor dem zweiten Advent die Analyse vorstellt - nicht Löw selbst. In der als Durchhalteparole formulierten Stellungnahme von DFB-Präsident Fritz Keller tauchte Löws Name nicht auf.
DIE MÖGLICHEN NACHFOLGER
Bei einem längst nicht mehr ausgeschlossenen Abschied des Cheftrainers fehlt dem Verband die eine, sofort verfügbare und allseits akzeptierte Alternative. "Dass nach dem Ergebnis Kritik aufkommt, ist nachvollziehbar, ändert aber nichts an meiner Einschätzung, dass die DFB-Elf mit einer entsprechenden Vorbereitung bei der EM im nächsten Jahr eine gute Rolle spielen wird. Die Frage nach mir stellt sich für mich dabei nicht", sagte Bayern-Trainer Flick der "Welt am Sonntag". Der Triple-Gewinner war 2014 als Assistent mit Löw zusammen Weltmeister geworden, hat nach seinem ersten Jahr in München aber lange nicht genug von Titel und Rekorden.
Klopp, der mit seiner mitreißenden Art sicher die Wunschlösung vieler Funktionäre wäre, genießt noch zu sehr seine Zeit beim FC Liverpool. "In der Zukunft vielleicht. Jetzt? Nein", sagte der frühere Dortmunder. "Ich habe keine Zeit, ich habe einen Job - und einen ziemlich intensiven übrigens!" Klopps Vertrag an der Anfield Road läuft noch bis zum Sommer 2024, wenn in Deutschland die Heim-EM steigt.
Ralf Rangnick wäre verfügbar, ist aber eher der kühle Fußballfachmann, der zudem gerne viel Kompetenz hat. Das würde vor allen Bierhoff betreffen, dessen Position bei einem vorzeitigen Abschied von Löw nicht gestärkt wäre. Interne, aber eher B-Lösungen wären Löws Assistent Marcus Sorg und U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz. Sie sind zu nah dran am Orbit des Amtsinhabers.
DIE AUSGEMUSTERTEN
Eng mit der Löw-Debatte verbunden sind die drei im März 2019 ausgemusterten Ex-Weltmeister Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels. Löw verteidigt seinen personellen Umbruch - lautstarke Meinungsführer werden in der DFB-Auswahl aber schmerzlich vermisst. "Wie gesagt, keiner von uns ist zurückgetreten", sagte Müller am Samstag bei Sky. Er sei aber "nicht der Meinung, dass wir über Spieler diskutieren sollten". Eine Rückholaktion zumindest eines Teils des Trios wäre längst nicht mehr nur sportlich begründet - sondern auch politisch.
DAS PRÄSIDIUM
Mit diesem Problem sollte sich DFB-Präsident Keller mittlerweile auskennen. Der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zufolge werfen Teile des Präsidiums dem Chef einen Schlingerkurs vor. Nach der Spanien-Pleite waren erstaunlich detaillierte Informationen zum Ablauf des späteren Abends in der "Bild"-Zeitung aufgeschlüsselt worden. Kein Zeichen für Geschlossenheit. Auch wenn der DFB-Präsident, der sich zuletzt einen offenen Machtkampf mit Generalsekretär Friedrich Curtius geleistet hatte, nichts mit Löws Vertragsunterschrift bis 2022 zu tun hatte - die Entscheidung für oder gegen den 60-Jährigen wird Kellers Amtszeit prägen.
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