Die organisierte Fanszene will ihn sofort abschaffen, die Funktionäre schimpfen aus der Emotion heraus gern auf den "Kölner Keller", die Verbände arbeiten an immer neuen Erweiterungen: Der Videobeweis ist in der Fußball-Bundesliga auch fünf Jahre nach seiner Einführung ein riesiges Reizthema.
Der ewige Experte Günter Netzer ("Fußball ist Drama"), der sich vor einem perfekten und langweiligen Sport durch Videobilder sorgte, ist längst widerlegt. Gestritten, geflucht und diskutiert wird noch immer - nun eben mit der zusätzlichen Ebene Video Assistant Referee (VAR). So ist es, seit der Videobeweis am 18. August 2017 beim 3:1 des FC Bayern gegen Bayer Leverkusen erstmals in der Bundesliga zum Einsatz kam.
Die Fußball-Funktionäre sind mit der Vision angetreten, das Millionenbusiness gerechter zu machen. Untermauert wird dieser Plan mit jährlichen Berichten, wonach in den Bundesligen zwischen 60 und 100 Fehlentscheidungen pro Saison korrigiert werden. Während viele vom Warten und den ständigen Korrekturen genervt sind, kündigte Schiedsrichter-Chef Lutz Michael Fröhlich schon vor der Sommerpause noch mehr Eingriffe an: "Es gibt eher die Tendenz, über fehlende Intervention nachzudenken als über übertriebene Intervention."
Fans beklagen Verlust an Emotionen
Fans werden das nicht gerne hören. In den Kurven ist der VAR eher unbeliebt, die Korrektur der Tatsachenentscheidung wird als klinischer Eingriff in den Sport wahrgenommen. "Ein Großteil ist sehr deutlich gegen den Videobeweis", sagte Sprecher Sig Zelt vom Bündnis ProFans der Deutschen Presse-Agentur: "Der geringe Gewinn an mehr Gerechtigkeit steht in keinem Verhältnis zum Verlust an Emotionen." Der verzögerte Torjubel mache den Sport für die Zuschauer "deutlich unattraktiver".
Bestes Beispiel für Zelts These war das EM-Finale der Frauen im Londoner Wembley-Stadion vor gut zwei Wochen. Als Chloe Maggie Kelly in der 110. Minute Englands Titeltreffer und damit ihr wichtigstes Tor der Karriere erzielte, musste sie einige Sekunden bange warten, bevor sie ihr Trikot ausziehen und ausgelassen jubeln durfte. Das deutsche Team hingegen haderte damit, dass es trotz der verfügbaren Videobilder keinen Elfmeter in der ersten Halbzeit zugesprochen bekommen hatte.
Ein zentraler Kritikpunkt der Fanszene ist neben den verzögerten Emotionen vor allem, dass TV-Zuschauer bei Video-Überprüfungen wesentlich besser im Bilde sind als Fans vor Ort, die dort oft gerade einmal erfahren, dass eine Szene überprüft wird. Helen Breit von der Fan-Organisation Unsere Kurve sagte: "Bei uns ist das Meinungsbild einhellig: Wir können auf den Videobeweis verzichten. Es ist im Stadion nicht nachvollziehbar und zerstört die Emotionen beim Torjubel."
Mehr Elfmeter, weniger Rote Karten
Unter den Funktionären ist das Meinungsbild vielfältiger. "Am Anfang war ich noch gegen den Videobeweis. Jetzt kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass er nicht mehr da ist", sagte Rudi Völler in einem dpa-Interview über das Instrument, dass er einst als "Stimmungskiller" bezeichnet hatte. Das technische Hilfsmittel nerve ihn zwar noch manchmal und könne weiter verbessert werden, die Modernisierung des Fußballs sei bei aller Tradition aber "auch wichtig".
Ein Blick auf die Bundesliga-Zahlen zeigt, dass es seit Einführung des Videobeweis mehr Elfmeter und weniger Platzverweise gibt als zuvor. Dass der Videobeweis nicht mehr aus dem Fußball verschwindet, dürfte allen klar sein, das zeigen auch weitere Innovationen der Verbände. Stattdessen soll das Hilfsmittel inhaltlich verbessert und erweitert werden. Für die WM in Katar (20. November bis 18. Dezember) plant der Weltverband FIFA mit einer halbautomatischen Abseitstechnologie.
25 statt 70 Sekunden für Abseits-Korrekturen
Über ein 500-Hertz-Signal im Ball und ein Dutzend Kameras, die über Datenpunkte die Bewegungen der Spieler festhalten, wird noch genauer als bislang die Position von möglicherweise im Abseits postierten Akteuren erfasst. Die Daten werden von einem Video-Assistenten geprüft und an den Referee auf dem Feld sofort weitergeleitet. Die Überprüfung von Abseitsszenen soll so nur noch 25 statt wie bisher 70 Sekunden dauern.
Ein wichtiger Punkt, denn die langen Unterbrechungen ist für Beteiligte eines der Hauptärgernisse. "Es hat fünf Stunden und 34 Minuten gedauert, bis man wusste, dass es ein Millimeter Abseits war. Mich würde mal interessieren, wie dick die Linie war, die sie da gezogen haben", wetterte Bayern-Trainer Julian Nagelsmann jüngst. Schiedsrichter Deniz Aytekin gestand sogar, Spieler Anfang August vor einem Eckball nur deshalb ermahnt zu haben, um Zeit für eine laufende Überprüfung des Videobeweis zu gewinnen.
Schiedsrichter als Chef gefordert
Neben den Faktoren Zeit, Emotionalität und Transparenz geht es auch häufig um die Rolle des Schiedsrichters auf dem Rasen. Der ehemalige Top-Referee Markus Merk stellte dazu klar: "Er kann nicht nur der Erfüllungsgehilfe des Video-Assistenten sein. Man muss die Schiedsrichter dahingehend trainieren, dass sie ihrer primären Aufgabe wieder besser nachkommen: Die Hauptverantwortung auf dem Feld zu tragen." Auch viele Vereinsverantwortliche pochen darauf, dass die finale Entscheidung auf dem Rasen falle und nicht zu sehr durch eine Intervention aus Köln beeinflusst werde.
Als der Schalker Dominick Drexler jüngst nach einer Szene, die auf dem Feld als harmlos beurteilt wurde, Rot sah, reichte es Schalkes Sportvorstand Peter Knäbel: "Wenn da im Keller lauter Kaufhaus-Detektive sitzen und nach einem Bild suchen, in dem man irgendeine Schuld beweisen kann, dann werden die Werte des Spiels nicht respektiert." Wenn dies die Zukunft sei, sei das nicht mehr sein Spiel, verdeutlichte Knäbel. Schalke-Coach Frank Kramer rügte den Eingriff des Assistenten als "Oberschiedsrichter-Wesen".
(Von Patrick Reichardt und Jörg Soldwisch, dpa)