Die Szenerie wirkte bizarr. Nicht die Anhänger der siegreichen Mannschaft feierten im Stadion an der Stamford Bridge, sondern die des unterlegenen Teams. Minuten nach dem Abpfiff drückten sich die Fans des FC Chelsea längst durch die engen Straßen rund um die Spielstätte inmitten Londons, während tausende Fans von Eintracht Frankfurt ihren geschlagenen Helden huldigten.
Erst im Elfmeterschießen war der Fußball-Bundesligist dem favorisierten Star-Ensemble 3:4 unterlegen, hatte auf dramatische Weise das Endspiel der Europa League verpasst. Unter den traurigen Verlierern: Martin Hinteregger.
Enttäuscht stand der Österreicher vor den Fans. Nur zögerlich folgte er den Aufforderungen der Anhänger, klatschte Hände ab, ließ sich herzen und trösten. Diesen denkwürdigen Abend dürfte der 26-Jährige nicht so schnell vergessen, im Frankfurter Trikot erlebte er seinen bisherigen Karrierehöhepunkt. Aber auch einen Tiefpunkt.
Der Ex-FCA-Spieler machte ein bärenstarkes Spiel - bis es ins Elfmeterschießen ging
Aufopferungsvoll hatte sich der Abwehrspieler der Offensivkraft eines Hazard, Giroud oder Higuain entgegengeworfen, bei einem Klärungsversuch wurde sein Bein einem Bruchtest unterzogen – und hielt stand. Hinteregger, ein Mann, der weder sich noch Gegenspieler schont, stand für den Einsatz und die Leidenschaft der Frankfurter.
Entschieden wurde der Abnutzungskampf aber nicht in einem Mann-gegen-Mann-Duell oder durch eine Willensleistung, sondern durch eine Nervenprobe am Elfmeterpunkt. Und genau dort unterlief Hinteregger einer seiner ganz seltenen Fehler dieses Abends. Hinteregger drosch den Ball flach und unplatziert in die Mitte des Tores, Chelseas Torhüter Arrizabalaga hielt die Kugel auf. Für Hinteregger tragisch. „Wenn man einen Elfmeter verschießt, ist es immer ganz schlimm. Es tut mir richtig weh“, erklärte er in einer ersten Reaktion.
Beim nächtlichen Bankett im noblen Fünf-Sterne-Hotel Corinthia unweit des Trafalgar Square herrschte Trauerstimmung im Eintracht-Lager. Hinteregger zeigte sich weiterhin untröstlich. „Es hätte das größte Spiel mit dem schönsten Ende werden können. Wir waren ganz, ganz knapp vor der großen Sensation“, befand er.
Dass der Österreicher in der laufenden Spielzeit in einem europäischen Halbfinale auf dem Rasen stehen würde, war nicht zu erwarten gewesen. Vor rund drei Monaten stand der kernige Innenverteidiger noch für den FC Augsburg in der Bundesliga auf dem Platz. Weil er den damaligen Trainer Manuel Baum öffentlich kritisiert hatte, wurde er suspendiert und kurzfristig an die Eintracht ausgeliehen.
In Frankfurt gründeten Fans die "Hinty Army"
Dort verrichtet Hinteregger als Stammkraft sein Tagwerk und stieg innerhalb weniger Wochen zum Publikumsliebling auf. Die Fans widmeten ihm sogar einen Song: „Hinti Army Now“ – eine abgeänderte Form eines Status-Quo-Hits. Die Krönung blieb dem Österreicher vorerst verwehrt, ihm erging es wie der Eintracht: Sympathien gesammelt, aber keinen Titel. Frankfurts Trainer Adi Hütter tröstete sich mit der eindrucksvollen Bilanz in der Europa League, mit sechs Siegen in der Gruppenphase – einem Rekord.
„Wir haben auf uns aufmerksam gemacht und uns sehr gut verkauft“, betonte Hütter. Davon zeugte das Interesse an der Begegnung in London. 5000 Eintracht-Fans unterstützten ihre Mannschaft im Londoner Stadion, 11.000 Anhänger fieberten beim Public Viewing in der heimischen Arena mit. Und vor dem Fernseher verfolgten 6,45 Millionen Menschen am Donnerstagabend die Live-Übertragung. Die Eintracht bescherte RTL eine Rekord-Quote. In der Spitze waren es sogar 7,3 Millionen TV-Zuschauer.
Frankfurts Sportvorstand Fredi Bobic hofft auf weitere europäische Ausnahmeabende, womöglich sogar in der Champions League. An den abschließenden beiden Spieltagen wollen die Frankfurter den vierten Tabellenplatz verteidigen, der ihnen die Teilnahme in der Königsklasse garantiert.
Hinteregger wäre gerne dabei. Jüngst hat er erklärt, dauerhaft zur Eintracht wechseln zu wollen. Scheitern könnte der Transfer an Ablöseforderungen des FC Augsburg. Für dessen Sportgeschäftsführer Stefan Reuter scheint die Verhandlungsposition komfortabel: Hintereggers Marktwert ist gestiegen und die Kasse der Eintracht gefüllt. Allein in der Europa League hat Frankfurt mehr als 30 Millionen Euro eingenommen. (mit dpa)