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Brasilien - Deutschland: Deutschland im WM-Freudentaumel: Bitte nicht wachküssen

Brasilien - Deutschland

Deutschland im WM-Freudentaumel: Bitte nicht wachküssen

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    Überschwängliche Freude nicht nur bei der Nationalmannschaft. Ganz Deutschland ist im Freudentaumel.
    Überschwängliche Freude nicht nur bei der Nationalmannschaft. Ganz Deutschland ist im Freudentaumel. Foto: Marcus Brandt, dpa

    Alles nur geträumt? Michael Trosdorff hatte eine kurze Nacht, so wie die halbe Republik, da träumt man schon mal wirres Zeug. Spätestens, als seine Beschäftigten die rund 100 Filialen der Bäckerei Büsch im Rheinland aufsperren, als die ersten Kunden mit breitem Grinsen vor den Theken stehen, wird ihm bewusst, dass dieses 7:1 so wirklich war wie seine eigenen vollmundigen Versprechungen.

    Liebe Kunden, hat er in einer Werbeaktion für die Dauer der Fußball-Weltmeisterschaft angekündigt, ihr bekommt für jedes Tor, das die Deutschen schießen, am Tag darauf eine Gratis-Semmel (bei ihm heißt die Semmel: „Das Büsch“).

    Brasilien - Deutschland: Eine Gratis-Semmel für jedes Tor

    Jetzt hat er den Salat.

    Es lässt sich trefflich darüber fachsimpeln, was man mit sieben Semmeln in der heimischen Brotdose anstellt. Fakt ist, Trosdorff kommt mit der Produktion nicht mehr hinterher. „Wir haben unsere Kapazität voll ausgereizt, aber mit einem 7:1 ist nicht zu kalkulieren“, sagt er. Jetzt erhalten viele Kunden eben Gutscheine, die Semmeln gibt es dann in den nächsten Tagen.

    Man kann das so nüchtern sehen wie der Bäckerei-Chef und sagen: „Mit einem 7:1 ist nicht zu kalkulieren.“ Man kann an diesem Mittwochmorgen aber auch in die übernächtigten Gesichter der Kollegen im Büro oder in der Werkshalle blicken und feststellen: Da ist keine Nüchternheit rund um die Augenringe, auch nur wenig überschäumende Euphorie.

    Deutschland schlägt Brasilien 7:1: Deutschland kann es nicht fassen

    Da hat sich bei vielen eine schiere Fassungslosigkeit eingebrannt. Ein Nichtbegreifenkönnen, was sich ein paar Stunden zuvor in Brasilien abgespielt hat. Gesichter, als wollten sie fragen: Alles doch nicht geträumt, oder?

    Es gibt so viel Gesprächsstoff, der am Tag danach das Leben in Deutschland bestimmt. Es haben ja 32,6 Millionen allein im Fernsehen den Halbfinalsieg gegen die Brasilianer verfolgt, da sind die geschätzt mindestens zehn Millionen, die Online-Angebote genutzt haben oder beim Public Viewing waren, noch gar nicht mitgerechnet. Laut Twitter war er sogar das meistkommentierte Sportereignis seit Bestehen des Internet-Kurznachrichtendienstes – mit 35,6 Millionen Tweets während der Partie.

    Man kann über Müller und Khedira und Neuer reden, über das Zick-zack-noch-ein-Tor, die armen Gastgeber und, und, und. Man kann sich aber auch die Frage stellen: Wie wird man einmal in zehn, 20, 50 Jahren über diese Nacht von Belo Horizonte sprechen? Für Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der Erfolg „schon fast den Namen ,historisch‘ verdient“.

    Deutschland im Finale: Merkel und Gauck fliegen nach Brasilien

    Man darf gespannt sein, ob sie das noch steigern wird, sollte Deutschland tatsächlich Weltmeister werden. Merkel will jedenfalls am Sonntag in Rio de Janeiro auf der Tribüne sitzen, ebenso wie Bundespräsident Joachim Gauck.

    Fakt ist: Aus deutscher Sicht war das 7:1 der zweithöchste Sieg bei einer Weltmeisterschaft nach dem 8:0 gegen Saudi-Arabien im Jahr 2002 und darüber hinaus der höchste Halbfinal-Erfolg der WM-Geschichte überhaupt. Aber wird er jemals in einem Atemzug genannt werden mit dem Wunder von Bern, dem Wembley-Tor 1966, der traurigen, aber epochalen 3:4-Niederlage 1970 in Mexiko gegen Italien?

    Wird man später einmal sagen können: Ich weiß noch genau, wo ich war, an jenem Abend des 8. Juli 2014? Oder hängt das einzig und allein davon ab, welchen Ausgang das Endspiel am kommenden Sonntag nehmen wird?

    Die Nachrichtenagentur dpa legt sich fest: Dieses Spiel werde „als ein Jahrhundertereignis in die Fußball-Geschichtsbücher eingehen“. Den Turnierfavoriten Nummer eins in dessen eigenen Land geschlagen, mit 7:1, mit fünf Toren in der ersten Halbzeit, mit einer selten zuvor gesehenen Dominanz.

    Deutschlands 7:1: Größer geht es kaum

    Sie erhält Unterstützung ausgerechnet vom obersten Chef jener Mannschaft, die nach dem Spiel betont zurückhaltend war, ja fast schon demütig auf die Euphoriebremse getreten ist.

    Wolfgang Niersbach, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, sagt also: „Das ist ein historisches Ergebnis, das ist keine Übertreibung. Ihr könnt euren Kindern und Enkelkindern noch in Jahren und Jahrzehnten erzählen: Damals, 8. Juli 2014, in Belo Horizonte, ich war dabei. 7:1 gegen Brasilien. Noch in Jahrzehnten wird man fragen: Wie war das möglich?“

    Größer geht es kaum.

    Dieser Traum von einem Halbfinalspiel hatte auch für den Fernsehzuschauer seine besondere Jubel-Dramaturgie. Der überschwänglichen Freude über die ersten Treffer folgte in vielen Wohnzimmern ein kollektives „Das gibt’s noch nicht!“. Die zweite Hälfte verfolgten viele Fans mit einer Gelassenheit, wie es sie so kurz vor dem Finale in der WM-Geschichte wahrscheinlich noch nie gegeben hat. Dass anschließend auf vielen Straßen im Land die Nacht trotzdem nicht zum Tag gemacht wurde, lag vorrangig daran, dass es wie aus Kübeln goss. Dieses Spiel war ein Märchen, wenn auch kein Sommermärchen.

    Wo die einen träumen, jetzt auch noch vom Titel, wird der Albtraum bei den anderen noch lange andauern. Allerdings vermag dieser Begriff kaum das widerzuspiegeln, was sich nun unter den Brasilianern abspielt. Schon gleich nach dem Schlusspfiff entfachen Reporter und andere Experten eine Diskussion darüber, ob diese Niederlage, die höchste der brasilianischen WM-Geschichte, als noch schlimmer zu bewerten ist als das „Maracanaço“ von 1950. Damals verspielte Brasilien vor 200 000 Zuschauern im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro in der letzten Partie mit einem 1:2 gegen Uruguay den Titel.

    Auch hier: Die historische Dimension dieses 1:7 ist greifbar.

    Zum Ende feierte Brasilien Deutschland an

    Zuvor hat es im Stadion teils wütende Pfiffe gegen die eigene Mannschaft gegeben, die vor allem Stürmer Fred abbekam. Gegen Ende unterstützten viele sogar stimmlich die bescheidene deutsche Fanschar.

    In der Nacht werden vereinzelte Ausschreitungen gemeldet. Ein paar Busse gehen in Flammen auf, es gibt Festnahmen. Aber die große Wut bleibt aus. Zu tief sitzt der Schock. Zu viele Tränen fließen.

    Und da sind die schönen Momente in diesen Stunden der nationalen Katastrophe. In einer Kneipe der Stadt applaudieren die Einheimischen jedes Mal, wenn sie einen Gast im Trikot der deutschen Mannschaft sehen. „Deutschland hat uns unsere Grenzen aufgezeigt“, sagt Rodrigo Almeida, der mit Freunden das Spiel im Stadion gesehen hat. „Ich hoffe, sie werden jetzt Weltmeister.“ Brasilien hat schnell seine Gastfreundlichkeit wiedergefunden.

    Phasenweise wirkt die Stimmung sogar entspannt, auch wenn an den Tischen zigmal die dramatischen Minuten der ersten Halbzeit durchgespielt werden. „Ich musste kurz zur Toilette“, erzählt Claudio Ramalho, „da stand es 1:0 für Deutschland. Als ich zurückkam, waren es plötzlich fünf.“

    Vor der Partie waren die meisten Brasilianer noch optimistisch. Klar, Deutschland habe die besseren Spieler, aber Brasilien werde dies mit Herz und Leidenschaft wettmachen. Eine erwartungsvolle und harmonische Stimmung, Deutsche und Brasilianer machten Fotos Seite an Seite. Keine Spur von aufgeladener Atmosphäre, lediglich die Erwartung eines echten Fußball-Klassikers.

    Das hat sich nach wenigen Minuten erledigt. Fußball spielte nur die eine Seite: die deutsche. Frust und Enttäuschung schlugen bei den Anhängern durch. Und wie schon beim Eröffnungsspiel galten Staatspräsidentin Dilma Rousseff die ersten Wutgesänge. Elio Mazur, der im Zentrum von Belo Horizonte ein Gourmet-Restaurant betreibt, versucht das Positive zu sehen: „Für uns war diese WM sensationell. Unser Land hat einen Schub bekommen, der ohne die WM nicht möglich gewesen wäre.“

    Und doch ist da erst mal eine große Leere. Und der in rund 90 Tagen zur Wahl stehenden Regierung schwant, dass dieses Vakuum nicht lange bleibt. Wenn Fußball wieder zur Nebensache wird, werden die Alltagsprobleme der Menschen wieder zur Hauptsache: Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität. Ein Albtraum, der für viele nie endet.

    Die Deutschen dagegen werden nicht müde, sich fortwährend zu zwicken. Habe ich das wirklich erlebt? Und geht der Traum weiter? Berlin und Frankfurt am Main buhlen bereits darum, wer nach Rückkehr der Mannschaft eine mögliche Party ausrichten darf. Die soll es nur dann geben, wenn Deutschland Weltmeister wird. Bäckerei-Chef Trosdorff wird sich vermutlich davor hüten, mit einem neuen Gratisangebot das Catering zu übernehmen. (mit dpa)

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