Erst 1991 gab es die erste Weltmeisterschaft der Frauen. Sie haben an dem Turnier in China als Spielerin teilgenommen. Welche Erinnerungen haben Sie noch?
MARTINA VOSS-TECKLENBURG: Nach einer EM, die wir 1989 ja gewonnen hatten, war die erste WM der nächste logische Schritt. Und ein Meilenstein mit vielen positiven Erlebnissen. Übrigens war auch Pelé dabei, der sagte, dass die Nummer sieben bei den Deutschen eine gute Spielerin ist. Das war ich (lacht).
Dann haben die deutschen Fußballerinnen mit Ihnen aber das Halbfinale 2:5 gegen die USA und das Spiel um den dritten Platz gegen Schweden 0:4 verloren.
VOSS-TECKLENBURG: Es war ein großartiges Halbfinale mit einem Aha-Effekt für mich: Du spürst als Spielerin recht schnell, ob du noch irgendetwas bewegen kannst, aber dafür waren uns die Amerikanerinnen physisch viel zu überlegen. Im Spiel um Platz drei war dann die Luft raus. Die WM war unheimlich anstrengend, und ich hatte noch nie so viel Muskelkater, weil wir gefühlt jeden zweiten Tag gespielt haben und darauf gar nicht vorbereitet waren.
Nun kommt eine WM 2023 in Australien und Neuseeland, bei der erstmals 32 Nationen mitspielen. Ist der Fußball bei den Frauen denn schon so weit?
VOSS-TECKLENBURG: Das weiß ich auch nicht. Ich bin selber gespannt, wie jetzt die Ergebnisse in der Gruppenphase sein werden, weil es Nationen mit Nachholbedarf gibt. Es wird sich zeigen, ob dieser Schritt zu früh kommt. Andererseits liegt in einer Teilnahme für jedes Land auch die Chance, eine Entwicklung einzuleiten, um den Frauen- und Mädchenfußball weltweit zu fördern.
Sie beziehen in Wyong ein abgelegenes Quartier rund 90 Kilometer nördlich von Sydney. Stichwort: Lagerkoller. Machen Sie nicht denselben Fehler wie die Männer in Katar?
VOSS-TECKLENBURG: Wir haben ein gutes Umfeld, in dem wir uns wohlfühlen. Fakt ist, dass wir am Tag vor jedem Spiel in einem Transferhotel sind – und damit direkt in Großstädten wie Melbourne, Sydney oder Brisbane. Den Spielerinnen ist ein kurzer Weg zum Trainingsplatz wichtig. Das hat absolute Priorität. Wir haben uns viele Unterkünfte in Hotels mit 500 Zimmern in den Metropolen angesehen, wo es keine Rückzugsorte gab. Und da mussten wir Kompromisse finden. Ich denke, wir haben ein Quartier mit vielen Vorteilen, aber auch einigen Nachteilen. Dieses Team hat genau die Stärke, keinen Lagerkoller zu empfinden.
Bei der EM in England spielten die Spielerinnen, frei von Erwartungsdruck, groß auf. Haben Sie keine Bedenken, dass der Rucksack zu schwer wird, wenn Sie selbst vom Titel sprechen?
VOSS-TECKLENBURG: Wir wollen mit den Aufgaben wachsen, aber natürlich macht es etwas mit einem, wenn man mehr zu verlieren hat, als zu gewinnen. Ich will uns bestimmt kein Alibi geben, aber bei dieser WM melden acht, neun Nationen berechtigte Ansprüche an, um den Titel zu spielen – und diese Qualität haben wir auch.
Sie haben mit der EM ganz viel angestoßen: Länderspiele vor mehr als 20.000, 30.000 Zuschauern zur Primetime, mehrere Highlightspiele in der Bundesliga vor großer Kulisse, den Besucherschnitt im Liga-Alltag verdreifacht und die Wahrnehmung deutlich erhöht. Also spricht alles für einen nachhaltigen Effekt?
VOSS-TECKLENBURG: Ich habe das erste Mal durch das vergangene Jahr das Gefühl, dass sich alles so zusammenfügt, dass ein stabiles Fundament entstanden ist. Wir kommen ja aus kleinen, teils reinen Frauenfußballvereinen, aber jetzt haben wir große Lizenzklubs, in denen der Frauenfußball teilweise auf einem richtig guten Niveau integriert ist. Dieses Rad wird nicht zurückgedreht. Die Zuschauer kommen gerne zu uns, weil es auch eine andere Atmosphäre ist. Familiär und nah, aber herausragende Leistungen bleiben die Basis.
Das betonen Sie.
VOSS-TECKLENBURG: Wenn die Spielerinnen in den Vereinen und in der Nationalmannschaft nicht auf dem Platz so gut agiert hätten, wären die Leute nicht gekommen. Aber natürlich haben wir immer noch ganz viele Themen, die nicht selbstverständlich sind. Sonst hätten wir uns nicht so lange über eine TV-Vermarktung einer Frauen-WM unterhalten: Im Männerfußball hätte es diese ungeklärte Situation so lange nicht geben. Daran sehen wir noch das Verbesserungspotenzial. Wir hinken immer noch 50 Jahre hinter dem Männerfußball hinterher. Wir haben immer noch viel an der Basis zu tun, wenn ich an die Talentgerechtigkeit oder die weitere Professionalisierung in unseren Ligen und in unseren Vereinen denke.
Der Boom des Frauenfußballs begründet sich auch darauf, dass die Protagonisten als überaus authentisch wahrgenommen werden. Sie gehen da als Vorbild voran und lassen in einer NDR-Dokumentation Ihren ehemaligen Freund und Trainer vom KBC Duisburg, Jürgen Krust, Ihre ehemalige Lebensgefährtin Inka Grings als auch Ihren Ehemann Hermann Tecklenburg und Ihre Tochter Dina zu Wort kommen. Wollten sie zeigen, dass die Welt bunter ist als viele denken?
VOSS-TECKLENBURG: (lacht) Ich habe in diesem ganzen Dokuprozess gar nicht so sehr darüber nachgedacht, wie das jetzt vielleicht andere sehen. Ich bin halt ein sehr offener Mensch, der mehrheitlich zu dem steht, was er in seinem Leben tut. Ich bin stolz darauf, dass ich sowohl mit Jürgen als auch mit Inka oder heute mit meinem Mann Hermann respektvoll und freundschaftlich umgehe, obwohl wir unterschiedliche Lebenswege gegangen sind. Auch auf diese Menschen kann ich mich jederzeit verlassen, denn wir haben eine Verantwortung übernommen: Jürgen und ich für ein Kind, Inka und ich für andere Dinge und Hermann für ein Unternehmen. Natürlich war es auch mal schwierig, aber wenn die Personen nicht wertvoll wären, hätte ich nicht diese Zeit mit ihnen verbracht.
Diese Offenheit.
VOSS-TECKLENBURG: Das hat sich aus der Story ergeben. Natürlich ist die Welt viel bunter – und bei mir gibt es diese Lebenslinien. Ich wollte damit auch zum Ausdruck bringen, dass Türen woanders aufgehen, wenn sie hier vielleicht zugehen. Neben der inneren Stärke braucht es dazu Menschen, die einen auffangen, wenn es einem nicht so gut geht.
Woher kommen diese Werte?
VOSS-TECKLENBURG: Sie kommen von meiner Familie. Meine Eltern haben Wert darauf gelegt, dass wir ‚danke‘ und ‚bitte‘ sagen. Sie haben fünf Kinder unter schwierigen Bedingungen großgezogen. Da war Verlässlichkeit gefragt. Jeder ist für den anderen da. Heute möchte ich an meine Familie etwas zurückgeben, weil ich privilegiert bin. Ich weiß genau, was mir dieser Sport gegeben hat. Ich bin über den Fußball zu einer Persönlichkeit geworden.
Sie sind jetzt schon fünf Jahre Bundestrainerin. Haben Sie darin Ihren Traumjob gefunden?
VOSS-TECKLENBURG: In dem, was ich am liebsten mache, nämlich Fußball – darf ich so viel erleben. Trotzdem bin ich gut damit gefahren, mir gewisse Dinge offenzulassen, weil sich Lebenssituationen schnell ändern können. Nehmen wir das Worst-Case-Szenario: Wir scheiden im WM-Achtelfinale aus, und die Leute machen sich Gedanken, ob ich wirklich noch die richtige Bundestrainerin bin. Oder ich stelle in einigen Jahren fest, dass ich nicht mehr den gleichen Impuls geben kann. Die Dinge nutzen sich vielleicht auch mal ab. Da versuche ich wachsam zu bleiben.
Zur Person
Martina Voss-Tecklenburg, 55, ist seit November 2018 Bundestrainerin der deutschen Frauen-Nationalmannschaft. Die gebürtige Duisburgerin bestritt selbst 125 Länderspiele, gewann zwischen 1984 und 2000 vier EM-, aber keinen WM-Titel. Bereits mit 25 brachte sie während ihrer aktiven Zeit Tochter Dina zur Welt. Danach war sie mit ihrer Mitspielerin Inka Grings zusammen, die nicht geräuschlose Trennung führte zu ihrem Rauswurf aus dem deutschen Nationalteam vor den Olympischen Spielen 2000 in Sydney. Am 1. Oktober 2009 heiratete sie den Bauunternehmer Hermann Tecklenburg, damals Vorstandsmitglied von Fortuna Düsseldorf. Sie gehört heute noch dem Aufsichtsrat an.