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Fußball-WM der Frauen 2023: Südkoreas Trainer Bell: "Die Bundesliga hat an Stärke verloren"

Fußball-WM der Frauen 2023

Südkoreas Trainer Bell: "Die Bundesliga hat an Stärke verloren"

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    Colin Bell trainiert nach Stationen in Deutschland und Europa seit vier Jahren die Frauen-Nationalmannschaft Südkoreas.
    Colin Bell trainiert nach Stationen in Deutschland und Europa seit vier Jahren die Frauen-Nationalmannschaft Südkoreas. Foto: Marius Becker, dpa (Archivbild)

    Was haben Sie für einen Gesamteindruck von der WM?

    Colin Bell: Es wird sehr viel Wert auf die Physis gelegt. Einige Teams bringen viele schnelle Spielerinnen mit, was einen großen Unterschied macht. Aber auch technisch hat es sich sehr verbessert. Das Niveau ist überwiegend gut, die Spiele unterhaltsam – und die Spiele gerade in Australien bestens besucht. Insgesamt sind das sehr gute Eindrücke, die ich hier gewonnen habe.

    Südkorea hat allerdings seine ersten Gruppenspiele gegen Kolumbien (0:2) und Marokko (0:1) verloren, obwohl es nach der Auslosung hieß, Colin Bell und sein Team seien der stärkste Gegner der deutschen Fußballerinnen. Was ist da schiefgelaufen?

    Bell: Ich habe meine eigene Mannschaft hier nicht wiedererkannt. Wir haben noch nie so Fußball gespielt wie in diesen beiden WM-Spielen! So eine Phase haben wir in vier Jahren noch nicht, das kam völlig unerwartet. Wenn man lange als Trainer bei einer Mannschaft arbeitet, kann man eigentlich gewisse Tendenzen erkennen, aber das hatte sich nicht angekündigt. Wir hatten einige Tage vor WM-Start einen geheimen Test gegen die Niederlande bestritten und wirklich unheimlich aggressiv, taktisch sehr geordnet gespielt. So sind wir in das Spiel gegen Kolumbien gegangen, einen Gegner, den wir in- und auswendig kannten …

    … da gab es dann einen umstrittenen Elfmeter für die Südamerikanerinnen.

    Bell: … Ja, und danach war alles weg. Beim 0:2 von Linda Caicedo schmeißt sich unsere Torhüterin noch selber den Ball rein. Nach diesem Spiel herrschte ein Gefühl wie bei einer Beerdigung. Ich habe versucht, die Stimmung wieder hochzubringen, aber das zweite Spiel gegen Marokko sind wir anfangs wie ein Freundschaftsspiel angegangen.

    Was haben Sie getan?

    Bell: Ich war in der Halbzeit nur mit meinem Dolmetscher in der Kabine, aber das meiste habe ich auf Koreanisch gesagt: ‚Das seid ihr nicht!‘ Wie wir die letzten vier Jahre gespielt haben – wir hatten Japan im Finale der Asien-Meisterschaft am Rande einer Niederlage –, dürfen wir nicht gegen Marokko verlieren! Das war sehr, sehr enttäuschend: Solch ein Erlebnis hatte ich in meiner Laufbahn als Trainer selten. 

    Was könnten denn die Gründe sein?

    Bell: Das hat meines Erachtens psychische Gründe, aber es kommen auch physischen Ursachen hinzu. Die meisten meiner Spielerinnen sind dieses körperliche Niveau nicht gewohnt. Die Spiele in unserer Liga sind zu langsam, die Intensität im Training zu niedrig. Wir haben die Leistungsdaten am 18. Juli ausgewertet: Einige Akteure aus Südkorea kamen bei uns an, ohne die Wochen vorher einen einzigen richtigen Sprint zu machen. Nicht im Training, nicht im Spiel! Dann gelangt man in vier Wochen nicht auf Weltniveau. Und auch der Druck, die Erwartungshaltung ist für einige völlig neu gewesen. Aber eines muss ich jetzt noch sagen …

    Gerne.

    Bell: Nach dem Spiel gegen Marokko waren wir in Adelaide wirklich down. Aber als wir das Ergebnis von Deutschland gegen Kolumbien gehört haben, war die Stimmung sofort positiver. Wir wissen, dass unsere Chance unheimlich gering ist, aber wir haben noch eine kleine Chance. So bereiten wir uns jetzt auch vor. Ich kann natürlich nicht sagen, dass wir Deutschland 5:0 schlagen werden, um weiterzukommen.

    Es geht also nur um die Ehre?

    Bell: Noch mal: Wenn wir 5:0 gewinnen, sind wir weiter (lacht). Das ist zwar fast unmöglich, aber nicht völlig unmöglich. In Südkorea waren nur viele schon zufrieden, dass wir überhaupt bei der WM mitspielen. Mit einer solchen Haltung und Einstellung kann man aber nichts gewinnen – und das ist auch nicht mein Anspruch.

    Was folgt für Sie daraus?

    Bell: Ich habe direkt nach dem Marokko-Spiel meinen gesamten Stab zusammengeholt. Bereits am Flughafen haben wir angefangen, eine WM-Analyse anzufertigen. Daran haben wir bis tief in die Nacht gearbeitet und nur drei Stunden geschlafen. Dieses Konzept werden wir nach der Deutschland-Partie abschließen, um den Frauenfußball in Südkorea voranzubringen. Wir wollen dem Verband nach der Rückkehr etwas Handfestes überreichen: Das Konzept können sie in die Tonne kloppen oder aufwachen.

    Wollen Sie unter diesen Umständen denn als Nationaltrainer weiterarbeiten?

    Bell: Ich möchte auf jeden Fall meine Mission hier fortführen! Ich bin nach wie vor gewillt, meinen bis 2024 laufenden Vertrag zu erfüllen. Wenn der Verband das anders sieht, müssten sie es mir sagen (lacht). Aber wir haben bereits im September die Asienspiele, im Oktober steht die Olympia-Qualifikation an. Wir haben die älteste Mannschaft bei der WM und müssen danach einen Schnitt machen. Doch das ist leichter gesagt als getan: Ich habe keine U20 oder U19, aus der ich junge Talente hochziehen könnte.

    Warum nicht?

    Bell: Es gibt im Verband keine Nachwuchsteams, sondern nur einige wenige Schulen und Universitäten, an denen Fußball gespielt wird. Wir haben nur ein Reservoir von 1400 Spielerinnen – Japan zum Vergleich hat 800.000! Das ist eine Katastrophe. Nach dem Studium sind die Spielerinnen 23, 24, ehe sie in den Erwachsenenfußball kommen. So kommen keine Jüngeren nach. Wenn wir an diesem System in Südkorea für den Frauenfußball nichts ändern, werden sich auch die Ergebnisse nicht ändern. 2019 ist man in der Vorrunde ausgeschieden, jetzt passiert das vielleicht mit null Punkten.

    Da klingt schon durch, dass die deutschen Fußballerinnen sehr vermutlich die Gruppenphase überstehen.

    Bell: Normalerweise dürfte Deutschland aus dieser Gruppe rauskommen. Es wird sich in der Runde der letzten 16 zeigen, wenn sie gegen Brasilien oder Frankreich spielen, wie weit sie sind. Dann kann es auch zu Ende gehen. Für mich können sieben, acht Teams Weltmeister werden. Deutschland gehört mit seiner Qualität immer noch zu diesem Kreis. Ich finde nur, dass die Bundesliga an Stärke verloren hat.

    Sie haben beim SC Sand, 1. FFC Frankfurt und SC Bad Neuenahr gearbeitet und 2015 als letzter deutscher Verein mit Frankfurt die Champions League gewonnen. Woran machen Sie das fest?

    Bell: Ich gucke mir immer noch die Bundesligaspiele an, und da sage ich, dass das Niveau gesunken ist. Die besten Spielerinnen konzentrieren sich auf den VfL Wolfsburg und FC Bayern, zwei absolute Topteams. Dann gibt es aber eine Reihe von Mannschaften mit nur durchschnittlichen Spielerinnen. Ich verstehe nicht, warum Vereine wie der SC Freiburg, Bayer Leverkusen oder auch der 1. FC Köln nicht sagen, dass sie auch angreifen wollen. Die Leistungsunterschiede sind zu groß: Dahinter noch Frankfurt und Hoffenheim mit ein bisschen Abstand – und dann kommt der Rest. Das ist eine Dreiklassengesellschaft. Früher haben wir mit Frankfurt in Jena auch mal 0:2 zurückgelegen, mit Bad Neuenahr gegen Wolfsburg gepunktet. Solche Dinge passieren fast nicht mehr. 

    Zur Person: Colin Bell, 61, ist seit Herbst 2019 Trainer des Frauen-Nationalteams von Südkorea, dem dritten Gruppengegner der deutschen Fußballerinnen am Donnerstag (12 Uhr MESZ/ZDF) in Brisbane. Der gebürtige Engländer kam als junger Profi nach Deutschland, bestritt einige Zweitligapartien für den FSV Mainz. Im Frauenfußball arbeitete er als Trainer zunächst beim SC Bad Neuenahr, führte den 1. FFC Frankfurt dann 2015 als bislang letzten deutschen Verein zum Gewinn der Champions League. Danach ging der Fußballlehrer und Laienprediger nach Norwegen, trainierte das Nationalteam von Irland, ehe er vor vier Jahren seinen Job in Südkorea antrat. Bell hat zwar noch ein Haus in Westerwald, lebt die meiste Zeit des Jahres in Seoul.

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