Georgia Stanway muss immer lachen, wenn sie jemand auf ihre Tätowierungen anspricht. Von einer Qualle über einen Dinosaurier bis hin zu einem Strichmännchen und einer Eistüte: Die Engländerin sagt selbst, sie habe "jede Menge willkürliche Tattoos". Auf ihrem linken Arm befinden sich unter anderem ein Geist, ein Luftballon, ein Herz und die Worte "lots and lots like jellytots". Aber es scheint nicht alles ohne Bedeutung zu sein – die 24-Jährige hat auch die "209" auf ihrem rechten Bizeps stehen, eine Anspielung auf den Fakt, dass sie als 209. Nationalspielerin im Mutterland des Fußballs geführt wird.
Leicht auszumalen, wie die nächste Körperbemalung aussehen könnte, wenn die „Lionesses“ auch das WM-Halbfinale gegen Gastgeber Australien (Mittwoch, 12 Uhr, MESZ/) überstehen: Nach Platz drei (2015) und Rang vier (2019) erstmals die WM-Trophäe zu gewinnen, ist auch Stanways Ziel, die nun aber erst einmal in Sydney ein „tough game“, ein schweres Spiel, erwartet.
Riesige Unterstützung für Australien
Die "Matildas" werden im riesigen Australia Stadium nicht nur die Unterstützung von mehr als 75.000 Fans spüren, sondern die Rückendeckung des ganzen Kontinents ist ihnen gewiss. Die lebenslustige wie leidenschaftliche Mittelfeldspielerin Englands hat es als großen Vorteil gewertet, beim Kraftakt im Viertelfinale gegen Kolumbien (2:1) an selber Stelle schon gegen den Großteil der Kulisse anspielen zu müssen. "Das war ein guter Vorgeschmack", gab sie später zu Protokoll. Die einzige Möglichkeit auf dem Platz sei, sich mit Handzeichen zu verständigen. Und jetzt wird das Gebrüll noch um einige Phonstärken lauter.
Aber das kennt die 57-fache Nationalspielerin ja schon: Ihr Team hat die EM im eigenen Land auch deshalb gewonnen, weil sie sich die Atmosphäre, insbesondere im Finale gegen Deutschland in Wembley, zu eigen machten. Die Engländerinnen reizen alles aus, um Spiele zu gewinnen. Und dass sie anders als die Deutschen, die US-Amerikanerinnen oder die Brasilianerinnen noch nicht heimfliegen musste, hat viel mit ihrer Nummer Acht zu tun, die vergangenen Sommer zum FC Bayern wechselte, was auf der Insel nicht alle verstanden. Schließlich verließ die Antreiberin mit Manchester City einen ambitionierten Arbeitgeber.
"Das Leben ist zu kurz, um Deutsch zu lernen"
Ihre Begründung: "Meine Zeit war nach sieben Jahren vorbei. Ich musste einmal raus aus meiner Komfortzone." Bereut hat sie den Schritt nicht. Im Gegenteil, wie sie dem Guardian vor der WM verriet: "Ich bin in ein Land gegangen, in dem mich niemand gekannt hat, und ich konnte sein, wer ich immer sein wollte: Ich bin viel offener geworden." Nur mit der Sprache hapert es noch. Wenn sie beim Unterricht nicht wirklich weiterkommt, erinnert sie gerne an ein Zitat, das sie mal zu hören bekam: "Das Leben ist zu kurz, um Deutsch zu lernen." Zur besseren Verständigung hat sie sechs Tore zum Gewinn der Deutschen Meisterschaft beigesteuert, und niemand möchte diese aufgeschlossene Persönlichkeit bei den Bayern mehr missen, aber nicht immer war Stanway in München auf dem Platz so dominant wie gerade in Down Under.
Nach dem WM-Aus für Kapitänin Leah Williamson (Kreuzbandriss) und dem zwischenzeitlichen Ausfall von Strategin Keira Walsh (Knieverletzung) übernahm sie gleich mehrere Rollen. Plötzlich spielte sie nicht mehr nur eine fleißige Zuarbeiterin, sondern die eifrige Zweikämpferin und entschlossene Impulsgeberin. Trainerin Sarina Wiegman ist voll des Lobes, wie Stanway selbst nach der Umstellung auf eine Dreierkette das Scharnier zwischen Defensive und Offensive ausfüllt.
Dass sie die Verantwortung nicht scheut, machte sie im Auftaktspiel gegen Haiti (1:0) deutlich, als sie zum Elfmeter antrat: Den ersten Versuch verschoss sie, den zweiten verwandelte sie, nachdem sich Torhüterin Kerly Théus zu früh bewegt hatte. Dass Stanway im Achtelfinale gegen Nigeria beim Elfmeterschießen (4:2) ziemlich weit daneben zielte, blieb folgenlos. Und ist irgendwie schon vergessen.
Gegen Kolumbien gewann die blonde Powerfrau nicht nur zwei Drittel ihrer Zweikämpfe, sondern gab den Pass zum 2:1 von Alessia Russo. In der Drangphase der „Cafeteras“ bolzte sie den Ball mehrfach aus der Gefahrenzone, um ihre Mitspielerinnen umgehend zu mehr Aktivität aufzufordern. Als der Schlusspfiff ertönte, stand sie im Mittelkreis, ballte beide Fäuste und streckte die Arme in den Nachthimmel von Sydney. Es gibt genug Fotos von der Jubelgeste, die zeigen, dass sich dort noch ein freier Platz auf nackter Haut findet, um einen WM-Pokal einzustechen.