Wer glaubt, dass ein Convenience Store in Sydney alles hat, der irrt. In unzähligen solcher Gemischtwarenläden gibt es Softgetränke, Süßigkeiten oder Salzgebäck zu kaufen. Aber keinen Alkohol. Und nur selten Zeitungen. Wenn, dann liegen nur zwei Ausgaben nebeneinander. Sydney Morning Herald und Daily Telegraph. Politisch gegensätzlich ausgerichtet, setzen beide sportlich gerade denselben Schwerpunkt, nämlich fast das identische Konterfei auf die Titelseite: Sam Kerr. Die Starstürmerin erschien vor dem WM-Viertelfinale zwischen Australien und Frankreich in Brisbane (Samstag 9 Uhr/ZDF) in beiden Printausgaben auf Seite eins.
„Head games begin“, stand in der Schlagzeile. Illustriert mit der Ikone Kerr, die einen Ball mit dem Kopf jongliert. Wenn Text und Bild so gut zusammenpassen, haben sich Blattmacher ihre Gedanken gemacht, um die „Matildas“ angemessen zu würdigen. Dem Hype um dieses K.-o.-Duells kann sich niemand entziehen. Die Australian Football League (AFL) verschiebt Anstoßzeiten, in Sydney werden im Olympic Park riesige Public-Viewing-Bereiche eingerichtet, weil die Fanzone am Tumbalong Park zu winzig ist.
Das größte Spiel, die größte Spielerin
Es passt, dass zum größten Fußballspiel der australischen Geschichte wirklich auch die Figur mitmachen kann, die nach der erfolgreichen Generalprobe gegen Frankreich (1:0) eigentlich auch die WM prägen sollte. Jetzt kann sie die Hoffnungen der Nation mit Verzögerung tragen. Es hat eine ganze Gruppenphase gedauert, bis ihre nie näher definierte Wadenverletzung ausgeheilt war. Als die 29-Jährige im Achtelfinale gegen Dänemark (2:0) in der 80. Minute eingewechselt wurde, entlud sich infernalischer Jubel. „Es ist eine große Erleichterung, wieder zurück zu sein“, sagte Kerr danach. „Ich dachte, ich wäre ein bisschen eingerostet, aber nein, ich fühle mich großartig.“
Gefühlt grüßt sie seit Turnierstart von jeder Werbewand. Jeder kennt sie, jeder mag sie. Ihr hat es viel Achtung eingebracht, ihre Fernbeziehung mit der US-Nationalspielerin Kristie Mewis während der Olympischen Spiele 2021 öffentlich zu machen. Kerr schrieb damals: „Wir sind keine privaten Menschen. Ich teile gerne meine Geschichte und wer ich außerhalb des Fußballs bin.“
Sam Kerr schießt immer ihre Tore
Nadine Angerer hat bei ihrem Australien-Intermezzo vor zehn Jahren mitbekommen, wie ihr Stern aufging. Das australische Wunderkind kickte damals für den FC Sydney, während die deutsche Welttorhüterin bei Brisbane Roar spielte. „Sie ist die ideale Botschafterin für Australien“, sagt Angerer heute. „Kerr ist bodenständig, natürlich und zugänglich geblieben – und sie schießt natürlich immer ihre Tore.“ 240 in verschiedenen Ligen, 63 in Länderspielen. Mit ihrer Bekanntheit und Beliebtheit hat sie einen Tim Cahill überholt, das Idol der „Socceroos“, dem Männer-Nationalteam.
Beim Kopfball beeindruckt ihre Sprungkraft, beim Abschluss ihre Präzision, weshalb Eve Perisset, ihre Klubkollegin vom FC Chelsea, in der Pressekonferenz eine Pause machte, als die französische Verteidigerin nach möglichen Schwächen gefragt wurde. „Sie ist eine ständige Gefahr, weil sie so gute Bewegungen hat.“ Die Torjägerin erarbeitet sich viel über ihren Instinkt und ihr Durchsetzungsvermögen, das sie sich beim Australian Football angeeignet hat. Der Nationalsport ist tief in ihrer in Perth an der Westküste beheimateten Familie verwurzelt, ihr Bruder Daniel hat eine erfolgreiche Karriere hinter sich.
Wahrscheinlich wird Australiens Star nicht in der Startelf stehen
Vielleicht hätte auch Samantha May („Sam“) Kerr diesen rauen Pfad mit vielen blauen Flecken verfolgt, wenn es Mädchen damals nicht so schwer gehabt hätten. „Hundertprozentig wäre ich dabei geblieben, wenn ich gekonnt hätte“, sagte sie einmal. „Fußball hat mir damals nicht so gut gefallen. Ich glaube, jeder kann einen Football in die Hand nehmen: Man wirft den Ball hin und kickt ihn. Für einen Fußball braucht man viel mehr Geschick.“ Und jetzt vermutlich auch Geduld.
Nationaltrainer Tony Gustavsson dürfte eine Formation nicht auseinanderreißen, die sich übers Turnier von ihrer Mittelstürmerin emanzipiert hat. Der Schwede wird seine Nummer 20 vermutlich für eine spätere Heldenrolle in der Hinterhand behalten. Es ist ja möglich, dass die mit viel Offensivpower gesegneten Französinnen in Führung gehen. Wenn es bei einem Rückstand einen Push auf den Rängen und auf dem Rasen braucht, dann eignet sich dafür niemand besser als eine, die definitiv mehr im Angebot hat als jeder Convenience Store der australischen Großstädte.