Offenbar konnte „Sweet Caroline“ nicht warten. Sekundengenau nach Schlusspfiff hatte die Stadionregie im riesigen Australia Stadium von Sydney nach dem umkämpften WM-Viertelfinale zwischen England und Kolumbien (2:1) bereits den Klassiker von Neil Diamond parat. Der Ohrwurm animierte zwar prompt eine kleine britische Kolonie in der Kurve zum Mitmachen, doch auf dem Platz sahen die Protagonisten für Veitstänze keine Veranlassung. Der Auftrag der „Lionesses“ ist umfassender. Selbst das stimmungsvolle Halbfinale gegen Australien (Mittwoch 12 Uhr MESZ/ARD) an selber Stelle wäre nur Zwischenstation. Nationaltrainerin Sarina Wiegman trachtet nach der Trophäe. Deshalb hat die Niederländerin das Team England zu einer Ergebnismaschine geformt, die auf alles eine Antwort ausspuckt. „Diese WM ist sehr herausfordernd. Es gibt keine einfachen Spiele mehr“, erklärte die 53-Jährige ihre pragmatische Herangehensweise. Der Abnutzungskampf gegen die kratzbürstigen Südamerikanerinnen lieferte einen Beleg für ihre These. Dass die von diesem Gegner auf dem falschen Fuß erwischten deutschen Spielerinnen diesem Anforderungsprofil nicht mehr genügen, weil sie sich körperlich und spielerisch gar nicht weiterentwickelt haben, ist offenkundig.
Keine Panik nach einem Rückstand
Wiegmans Ensemble geht an den Anschlag, wenn es sein muss, ohne den Kopf zu verlieren. Und so werden Widerstände überwunden. Diesmal war es Leicy Santos, die den Favorit ins Hintertreffen brachte (44.). „Nach einem Rückstand kommt bei uns keine Panik auf“, erklärte Wiegman, deren ruhige Art abfärbt. Die durch den zwischenzeitlichen Ausfall von Strategin Keira Walsh erfolgte Umstellung auf Dreierkette hat ihr Team schnell adaptiert. Und vielleicht geschehen dann Dinge, die eigentlich einer zuverlässigen Torhüterin wie Catalina Pérez selten passieren: Bei einer Klärungsaktion rutschte der zu Werder Bremen wechselnden Ballfängerin das Spielgerät wieder aus den Händen: Lauren Hemp bedankte sich entschlossen mit dem Ausgleich (45.+6).
Vom Treffer zum 2:1 erholten sich die Kolumbianerinnen nicht mehr
„Lucky“, glücklich, wie Wiegman einräumte, die dafür umso begeisterter von jenem „clinical shot“ war, den Stürmerin Alessia Russo zum 2:1 (63.) ansetzte. Ein mit chirurgischer Präzision angesetzter Schuss, der unhaltbar ins Tor rauschte. Ein Wirkungstreffer, von dem sich der letzte Vertreter des amerikanischen Kontinents nicht mehr erholte.
Die das dritte Mal hintereinander in ein WM-Halbfinale stehenden Engländerinnen zeichnet aus, was eigentlichen bei solchen Turnieren immer die USA als Merkmal mitbrachten: exzellente Physis, enorm Power und einzigartigen Siegeswillen. Die britischen Prototypen heißen nach diesen Maßstäben die Defensivstützen Lucy Bronze und Millie Bright. Doch ohne fußballerische Begabung geht es auch nicht. Unter Wiegman ist das englische Toptalent Georgia Stanway gesetzt. Mit ihrer Spielintelligenz wusste sie genau, was zu tun ist: Erst den Steilpass zum 2:1 geben, dann auch mal Befreiungsschläge einbauen.
Als nächstes geht es im Halbfinale gegen Australien
Kolumbien war der beste Prüfstein für die Leidensfähigkeit eines Titelkandidaten, zumal unter 75.784 Augenzeugen ein beträchtlicher Teil wieder die Kolumbianerinnen unterstützte. Als Wiegman verraten sollte, ob sie gegen die „Matildas“ am meisten die Kulisse fürchte, widersprach sie energisch: „Die größte Herausforderung wird der Gegner – und wir selbst.“