Englischen Fußballerinnen sind jegliche Social-Media-Aktivitäten zu dieser WM untersagt. Um das Verlangen nach Teilhabe zu stillen, verschickt Englands Verband nun Twitter-Botschaften in titelverdächtiger Taktung. Gefühlt fast im Minutentakt laufen Bilder vom Chillen, Sequenzen vom Training oder Videos beim Bauen eines Holzturmes ein. In der Informationsflut ging die wichtigste Nachricht des Wochenendes fast unter: Keira Walsh hat sich im Gruppenspiel gegen Dänemark (1:0) am Freitagabend doch nicht den befürchteten Riss des äußeren Kreuzbandes zugezogen.
Um welche Knieverletzung es sich handelt, teilten die "Lionesses" nicht mit – nur noch, dass die Mittelfeld-Strategin im Basecamp in Terrigal an der Central Coast behandelt und gegen China (Dienstag 13 Uhr/ZDF) fehlen werde. 1,4 Millionen Abrufe erreichte diese Nachricht, die für den Europameister einer Erlösung glich, nachdem Torjägerin Beth Mead, Kapitänin Leah Williamson und Stürmerin Ellie Brazil wegen einer solchen Verletzung die WM verpasst hatten. Und sie sind mit diesem Leid nicht allein.
Das Kreuzband reißt bei Frauen drei- bis viermal häufiger auf als bei den Männern
Das Fachmagazin Kicker spricht von mindestens 35 Spielerinnen, die dieses Turnier deswegen versäumen. Schon die vier Kreuzbandrisse in der Karriere von ARD-Expertin und Golden-Goal-Schützin Nia Künzer drückten drastisch aus, welches Risiko speziell im Frauenfußball mitspielt. Dort tritt die Verletzung drei- bis viermal häufiger auf als bei den Männern. Eine Ansammlung der mit gerissenen Kreuzbändern fehlenden Stars könnte ganz locker um den Titel spielen.
Frankreich ist das Sturmduo Delphine Cascarino und Marie-Antoinette Katoto weggebrochen, Dänemark muss auf Stine Larsen und Nadia Nadim verzichten. Bei Spanien ist Weltfußballerin Alexia Putellas gerade erst fit geworden, denn oft dauert die Reha auch deutlich länger. Neun Monate sind eher die Regel als die Ausnahme. Dass auch der internationale Spielplan im Frauenfußball immer enger, die Belastung immer mehr und die Intensität immer höher werden, verschärft das Grundsatzproblem.
Torjägerin Vivianne Miedema: "Ich denke, es kein Zufall"
Gerade für die Topspielerinnen scheint bereits eine Grenze der Belastbarkeit erreicht, nun kommt aber auch bei den Frauen eine Nations League ab Herbst dazu. Die ebenfalls mit einem Kreuzbandriss fehlende Torjägerin Vivianne Miedema aus den Niederlanden warnte bereits vor Wochen: "Jetzt haben wir etwa 60 Spiele pro Saison. Bei der Weltmeisterschaft wird es einige Kreuzbandrisse geben. Ich denke, es kein Zufall, dass sich so viele nach der Europameisterschaft verletzt haben."
Uefa-Chefmediziner Zoran Bahtijarevic wehrte sich beim Kongress in der DFB-Akademie Anfang des Jahres gegen pauschale Vorwürfe, denn die Verletzung sei auch früher schon oft aufgetreten. Und: "Es wäre zu einfach, diesen Umstand nur diesem einen Faktor zuzuschreiben." Ein Grund sei "die Biomechanik des weiblichen Körpers, insbesondere der unterschiedliche Winkel zwischen Oberschenkelknochen und Becken", das führe "zu andersartigen Belastungen auf das Knie". Aber auch Muskelfunktionen und Menstruationszyklus spielen hinein. Eine medizinisch gesicherte Antwort für die Häufung gibt es bis heute nicht.
Fifa und Uefa sind erst dabei, belastbares Datenmaterial zu sammeln. Lange befasste sich die Mehrheit der sportwissenschaftlichen Forschung im Fußball nur mit männlichen Körpern. Das deutsche Team ist durch die Kreuzbandrisse von Giulia Gwinn und Carolin Simon betroffen. Als am Freitag im Training sich Felicitas Rauch bei einem geblockten Schuss ans Knie griff und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden ging, dachte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg zunächst an eine schwerere Verletzung als nur eine Verstauchung. "Mir tut jede Spielerin leid, die es trifft. Fußball ist nun mal eine Kontaktsportart, das gehört leider dazu. Wir versuchen so viel wie möglich, präventiv zu arbeiten."
So sind in die Aktivierung häufige Stabilisationsübungen eingebaut. Dazu zählen Übungen auf unstabilem Untergrund, Core-Training oder auf Wackel- oder Balance-Boards. Es gehört allerdings eine gewisse Hartnäckigkeit dazu, so etwas auch aus Eigenantrieb durchzuführen. Die deutsche Nationalspielerin Sara Däbritz, die vor mehr als drei Jahren bei Paris St. Germain einen Kreuzbandriss erlitt, entdeckte in der Reha ein neues Körpergefühl – und macht seitdem vor jedem Training noch Extraübungen, um die Muskulatur zu stärken. Die Mittelfeldspielerin sagte damals: "Jeder Fußballer hat mindestens einmal in der Karriere eine schwere Verletzung. Ich habe es nun bis fast 25 ohne geschafft." Eine pragmatische Reaktion auf eine Hiobsbotschaft, von der Keira Walsh noch mal verschont geblieben ist.