Natürlich hat Ghizlane Chebbak, die beste Fußballerin Marokkos, große Augen gemacht, als sie am Sonntagmorgen das Rectangular Stadium von Melbourne zur Pressekonferenz betrat. Das Regenwetter änderte nichts am Hochgefühl. Ihr Vater, der marokkanische Nationalspieler Larbi Chebbak, ist vor dreieinhalb Jahren gestorben, weshalb die 32-Jährige zuletzt immer von solch einem Moment geträumt hat. Auf einer WM-Bühne anzutreten, war ihm nämlich in den 70er Jahren nicht vergönnt. Wenn bei allen "Löwinnen" das Herzklopfen vor der Premiere gegen Deutschland groß ist, ist ihre Aufregung vielleicht am größten. "Wir sind nicht nur hergekommen, um das Turnier aufzufüllen, sondern um zu konkurrieren", sagte die Torjägerin. "Wir fühlen uns geehrt, das erste arabische Land zu sein, das an der Frauen-Weltmeisterschaft teilnimmt."
Sie hat häufig genug gesagt, dass sie ihren Vater als Vorbild betrachtet – und jetzt sind es dessen Nachfolger: "Das Männerteam hat uns gezeigt, dass nichts unmöglich ist, wenn man dafür kämpft und sich konzentriert." In Casablanca, Fès oder Tanger hoffen nicht wenige, dass in Australien mit den Frauen auf Wiedervorlage kommt, was die Männer in Katar vorgemacht haben: mit Herz, Leidenschaft und List die Favoriten verschrecken. Doch die Weltbühne bringt auch unbequeme Themen mit sich.
Der mediale Pflichttermin lief schon fast eine halbe Stunde, als die Frage aufkam, ob es im Team homosexuelle Spielerinnen gebe, obwohl gleichgeschlechtliche Beziehungen in Marokko verboten seien. Ghizlane Chebbak schaute erst verdutzt, dann entgeistert und hob die Augenbrauen. Danach schritt sofort die als Fifa-Media-Officer fungierende Yara Abdallah ein: "Sorry, dies ist eine sehr politische Frage", es solle bitte über Fußball gesprochen werden. Die Spielerin beschied mit ihrer Mimik, dass ihr damit aus der Patsche geholfen war. Auf Nachfrage erklärte der Weltverband, dass die Spielerin vor einer "für sie gefährlichen Situation in ihrer Heimat" geschützt werden musste. Dies sei die klare Direktive bei derartigen Fragen.
Marokkos König holte den Frauenfußball aus der Ächtung hin zur Achtung
Zuvor hatte Ghizlane Chebbak ausführlich erzählt, welche Fortschritte es bereits gegeben habe. Bis vor wenigen Jahren fanden Frauensportarten kaum Beachtung, kickten nur eine Handvoll Amateurinnen. Doch aus der Ächtung wurde Achtung, als Marokko mit der Ausrichtung des Afrika-Cups der Frauen 2022 betraut wurde. König Mohamed VI. verfügte persönlich, dass die Frauen das hochmoderne Trainingszentrum der Männer nutzten. Zudem erging die köngliche Direktive an den Fußball-Verband, einen hochrangigen Coach zu holen, der ein konkurrenzfähiges Ensemble formt.
Die Wahl fiel im November 2020 auf den ehemaligen französischen Nationalspieler Reynald Pedros, der mit den Frauen von Olympique Lyon zweimal die Champions League (2018 und 2019) gewonnen hatte. Der 51-Jährige kam zudem zuletzt mehrfach in den Austausch mit Männer-Nationaltrainer Walid Regragui: Sein französischer Landsmann hat ihm und seinen Spielerinnen von seinen epischen WM-Erlebnissen in der katarischen Wüste erzählt. Auch Pedros möchte nun "der Welt zeigen, dass es nicht so einfach sein wird, uns zu schlagen". Während des Trainingslagers in Österreich sprang für seine stolze Gemeinschaft gegen die Schweiz und Italien jeweils ein 0:0 heraus. Sein Team steht für Stabilität. Nicht für Ballbesitz.
Marokkos Fußballspielerinnen gelten als Symbole gelungener Emanzipation
Einige Spielerinnen gelten bereits als Symbole gelungener Emanzipation. Eine besondere Vita bringt zudem Rosella Ayana ein, im englischen Reading als Tochter eines marokkanischen Vaters und einer schottischen Mutter geboren. Bis zu den U17-Junioren spielte die 27-Jährige noch für England, entschied sich erst spät für den Verbandswechsel: Ihr Vater soll Freudensprünge im Wohnzimmer vollführt haben, als seine für Tottenham Hotspur spielende Tochter den Elfmeter gegen Nigeria im Halbfinale des Afrika-Cups verwandelte, der den Nordafrikanerinnen erst den Trip nach Australien ermöglichte.