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Fußball-WM 2022: Zwischen Maradonas Erbe und Schimpftiraden: Messi ist fast am Ziel

Fußball-WM 2022

Zwischen Maradonas Erbe und Schimpftiraden: Messi ist fast am Ziel

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    Lionel Messi jubelt und provoziert nach seinem Treffer gegen die Niederlande.
    Lionel Messi jubelt und provoziert nach seinem Treffer gegen die Niederlande. Foto: Peter Byrne, PA Wire

    Die Dirigentenrolle ist nicht neu für Lionel Messi. Aber dass er selbst ein Fußballlied anstimmt, in dem er die Hauptrolle besetzt, geschieht erst in Katar. „En Argentina nací, tierra de Diego y Lionel“. So geht es immer los. „In Argentinien wurde ich geboren, im Land von Diego und Lionel.“ Die folgenden Verse sind in Windeseile zur inoffiziellen Nationalhymne eines Landes geworden, für das es bei der Weltmeisterschaft in Katar um mehr als Fußball geht. Nach 1978 und 1986 den Goldpokal zu empfangen, würde Freude und Würde, Stolz und Ablenkung bringen – und Messi endlich, endlich auf eine Stufe mit Maradona stellen.

    Der vor zwei Jahre verstorbene Nationalheilige ist immer noch da, sonst hätten beim Viertelfinaldrama gegen die Niederlande (4:3 nach Elfmeterschießen) nicht wieder so viele Banner mit dessen Konterfei gehangen. Die argentinische Armada hätte sie eigentlich im Lusail-Stadium übers Wochenende hängen lassen können, denn auch das Halbfinale gegen Kroatien (Dienstag 20 Uhr) steigt in dem Tempel, der von draußen golden leuchtet, aber drinnen hellblau strahlt, wenn Argentinien hier antritt. Dieses inoffizielle Heimstadion muss stimmungsmäßig den Vergleich mit der „Bombonera“ von Buenos Aires nicht mehr scheuen. Nicht nur in Lusail, sondern überall in Doha ist an den argentinischen Feiertagen der Text zu hören, den Fernando Romero im September 2021 aus einer Laune heraus über die Klänge von „Muchachos“ von La Mosca gelegt hat. Keine Version drang so schnell und so tief in die argentinische Seele ein.

    Messi über Maradona: "Diego schaut auf uns herab"

    Als der Erfinder, ein einfacher Fan, die ersten Bilder sah, dass auch Messi mitsang, brach er in Tränen aus. Weil sein Lied die Kraft von den Rängen auf den Rasen transportiert. Wer den Kapitän Messi in der Nacht zu Samstag voller Inbrunst springen und singen sah, erst im Kreis der Kollegen, dann vor der Kurve, der spürte, wie die Musik jetzt alles verbindet. Himmel und Erde. Maradona und Messi. Der Weltstar hat in der Nacht zu Samstag selbst diese Brücke von der lebenden Ikone zu der verstorbenen Legende beschrieben. „Diego schaut auf uns herab. Er drängt uns, immer weiterzumachen. Er hilft uns von oben, und wir hoffen, dass es bis zum Ende so bleibt.“

    Der 35-Jährige sagte das mit ruhiger Stimme in der Pressekonferenz. Der Genius, der gegen die Niederlande mit seinem zehnten WM-Tor nun Gabriel Batistuta einholte und gegen die Kroaten bei seinem 25. WM-Einsatz mit dem Rekordspieler Lothar Matthäus gleichziehen kann, hatte zuvor geduscht und sicher auch kaltes Wasser über seine tätowierte Haut laufen lassen. Denn trotz einer auf Hochtouren laufenden Klimaanlage konnte zuvor niemand die aufgeheizten Gemüter beruhigen. Selbst Messi mutierte – wie einst Maradona – zur Furie, die Verschwörung witterte. Er will offenbar jetzt überall vorangehen. Auch bei Beschwerden und Protesten.

    "Dummkopf": Messi schießt gegen Niederländer und Schiedsrichter

    Argentiniens zornige Nummer zehn richtete dem Bondscoach Louis van Gaal, der zuvor über Messis nicht existentes Defensivverhalten gesprochen hatte, dass er nicht so viel quasseln sollte. Als er sich in Richtung van Gaal aufbaute, um die Ohren mit den Händen zu vergrößern, wusste er natürlich, welche Wirkung diese Bilder entfalten würden. Er verspürte auf den Doppeltorschützen Wout Weghorst einen derartigen Groll, dass er ein Fernsehinterview unterbrach. „Was guckst du so, Dummkopf?", giftete der Zwerg in Richtung eines Riesen, dessen Name er nicht kannte: „Die Nummer 19 von ihnen, die reinkam und gleich begann zu provozieren.“ Und er zog über Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz her, der ihn 2020 in seiner Zeit beim FC Barcelona dafür verwarnte, dass er zu Ehren Maradonas ein Trikot der Newell’s Old Boys zeigte.

    Ein Weltstar als Wutbürger. Die globale Strahlkraft der Figur ist allerdings zu groß, um darüber einfach hinwegzugehen. Zu oft sollte so einer seine Vorbildwirkung nicht mit Füßen treten, nur weil er so etwas wie Majestätsbeleidigung empfindet. Insgesamt war es wenig würdevoll, was Messi und Mitspieler an Provokationen einstreuten, die mit Gehässigkeiten und Gemeinheiten durchsetzt waren. Der von Leandro Paredes in die niederländische Bank gebolzte Ball oder die höhnische Geste von Nicolás Otamendi standen an der Spitze der Entgleisungen. Selbst mit der Rekordzahl von 17 Gelben Karte und einer Gelb-Roten Karte konnte dieses Gift und Galle spuckende Duell nicht beruhigt werden. Die Fifa hat nun angekündigt, gegen den argentinischen und niederländischen Verband Ermittlungen einzuleiten. Richtig so. Aber auch das Auftreten des spanischen Spielleiters mit seiner unerträglichen Theatralik müsste Konsequenzen haben.

    Nur Argentiniens Trainer Scaloni war am Ende des WM-Tags traurig

    Die Dramaturgie tat ein Übriges, weil zittrige Argentinier ihren 2:0-Vorsprung nicht durchbrachten. Daher besetzte Emiliano Martinez die Heldenrolle. Der tüchtige Torhüter, den alle nur „Dibu“ nennen, spannte seinen Körper wie auf der Streckbank, um gegen Virgil van Dijk und Steven Berghuis zu parieren, was ans Elfmeterschießen im Halbfinale der Copa América gegen Kolumbien erinnerten. Vor einem Jahr hatte der 30-Jährige die Gegner mit markigen Sprüchen verwirrt, was wegen der Geisterspiele jeder verstehen konnte. Diesmal ging das vor einer tobenden Menge mit 88.000 Menschen natürlich nicht. Das Ergebnis blieb dasselbe. „Wir haben das für 45 Millionen Argentinier gemacht“, sagte Matchwinner Martinez. „Unserem Land geht es wirtschaftlich so schlecht. Ein kleines bisschen Freude.“

    Nur Nationaltrainer Lionel Scaloni schaute am Ende traurig aus. „Ich möchte den Menschen in Pujato eine innige Umarmung schicken“, betonte der 44-Jährige, der aus dem kleinen Ort in der Provinz Santa Fe stammt. Dort waren am Tag des Viertelfinals ein junger Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen und einer schwer verletzt worden. „Was ein Tag der Freude werden sollte, endet mit Trauer“, sagte Scaloni – und bevor er vor aller Öffentlichkeit in der Pressekonferenz weinte, stand er gegen 2.30 Uhr auf und ging. Zurück blieb ein Potpourri der Emotionen. Dass sich das im Halbfinale gegen Kroatien alles noch steigern lässt, erscheint gerade schwer vorstellbar.

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