Dieser Hahn hält nichts von mitteleuropäischen Mythen. Von wegen, dass er das Krähen anzufangen habe, wenn die ersten Sonnenstrahlen den Boden küssen. Das Tier stolziert auch um drei Uhr nachts über die Dachterrasse und krakeelt. An solchen Tagen lässt sich aber alles symbolisch aufladen. Selbst ein Federviech. Das zumindest dafür steht, dass dieser deutschen Mannschaft nach dem WM-Aus ja nun doch irgendein Hahn nachkräht. Doch: Davon war ja nicht zwingend auszugehen.
Vor der Weltmeisterschaft hatten nur die härtesten Experten diskutiert, wie weit diese – nun so dumpf gescheiterte – Mannschaft kommen könnte. Ob es etwa ein Fehler war, Mats Hummels nicht zu reaktivieren. Die Stammtische, die sich immer seltener in urigen Dorfboazn befinden, sondern immer mehr in digitalen Räumen, hatten andere Themen. Schurkenstaat, Boykott, Menschenrechte.
"One Love"-Binde brachte Team in missliche Lage
Sechs Kilometer südöstlich des Hahns. Downtown Doha: Falken. Lassen sich unweit des bekanntesten Marktes der Stadt, dem Souq Waqif, kaufen. Über den Markt erheben sich die Hotels, die Fußballfans nur aus den Instagram-Beiträgen der Stars kennen. Vor dem ersten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft hatte seinerzeit Volkswagen die Journalistinnen und Journalisten in die 22. Etage des Alwadi Hotels geladen. Der Automobilkonzern ist Hauptsponsor des DFB. Auch hier: Dachterrasse. Der Blick wandert über das Meer, die neonfarben-dröhnenden Fassaden der Hotels. Unten wuseln mexikanische neben marokkanischen Fans. WM-Stimmung. Nicht aber im deutschen Team. Das hatte sich in eine missliche Lage bringen lassen. Wegen eines Stücks Stoff.
Ursprünglich sollte auf der Kapitänsbinde von Manuel Neuer „One Love“ zu lesen sein. Hat die Fifa aber verboten, von wegen politischer Äußerung, und die könne man – leider, leider – nicht erlauben. Protestnote des DFB und allgemeiner Aufschrei, weil man sich dem Verdikt des Weltverbandes beugt und nun die vorgeschriebene Binde trägt. Ein Symbol sei nur dann ein Symbol, wenn man auch bereit sei, ein Mindestmaß an Konsequenzen auszuhalten.
Das deutsche Team hat wie kaum ein anderes auf Missstände hingewiesen
Die deutsche Nationalmannschaft hat in den vergangenen Monaten wie kaum eine andere Länderauswahl auf die Missstände in Katar hingewiesen, trug Shirts, auf denen „Human Rights“ (Menschenrechte) zu lesen war. Und: Die Spieler spenden in den nächsten fünf Jahren eine Million Euro für ein SOS-Kinderdorf in Nepal. Die 26 Mann im Kader sind allesamt Millionäre. Sie sind keine Helden, weil sie den Bruchteil ihres Gehalts spenden. Es wird aber nicht einmal wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Es ist tatsächlich ein deutsches Phänomen, mit welcher Vehemenz Maximalforderungen an die Profis herangetragen werden. Joshua Kimmich galt einige Zeit als Querdenker, weil er mit einer Corona-Impfung zögerte und das nicht wissenschaftlich unterfüttern konnte. Nun sollten Fußballer im besten Fall die Weltmeisterschaft boykottieren. Das möglicherweise wichtigste Turnier ihres Lebens. Weil man ja schon für seine gesellschaftlichen Überzeugungen einstehen müsse. Warf ihnen Gratismut vor. Vielleicht aber ist es auch der Gratismut der Verzweiflung, der die eigenen Wünsche und Hoffnungen auf 25-jährige Fußballer projiziert. Alles wird immer komplizierter. Corona, Lockdown, Boris im Knast, Ukraine, Krieg, Gaspreise. Ein wenig Orientierung wäre nicht schlecht.
Millimeter im Spiel Japan gegen Spanien haben das deutsche Aus besiegelt
Eine Niederlage gegen Japan und ein Unentschieden gegen Spanien später wandelt sich die Stimmung tatsächlich. Zumindest bei den Deutschen in Katar. Die Mannschaft glaubt nach dem späten 1:1 und der Schützenhilfe Costa Ricas, dass jetzt doch noch alles gut werden kann. Die Medienleute freuen sich, nicht mehr über Binden und mögliche Klagen deswegen vor dem Sportgerichtshof berichten zu müssen. Stattdessen: Wille, Kampf, Taktik, Füllkrug. Eine WM ist oft auch der Geburtsort der unwahrscheinlichen Helden. Da schießt also ein Stürmer die Deutschen auf den Weg ins Achtelfinale, der vor einem Jahr noch in der zweiten Liga auf der Bank saß. „Football, bloody hell“, hat Manchester Uniteds Trainer-Legende Alex Ferguson gesagt, als sein Team dem FC Bayern binnen weniger Minuten den Champions-League-Titel entrissen hat. Fußball, verdammte Hölle noch mal.
Ähnlich äußert sich Donnerstagnacht Luis Enrique. „Fußball ist manchmal ein unerklärlicher Sport“, sagt der Nationaltrainer Spaniens. Seine Mannschaft hatte gerade mit 1:2 gegen Japan verloren. Auch, weil sich der Ball vor dem Siegtor der Japaner noch mit der Winzigkeit einer Rundung im Spielfeld befand und nicht im Aus. Millimeter, die über das deutsche Aus entscheiden. Bei einem Unentschieden nämlich würden sich die Deutschen nun noch im Turnier befinden, am Dienstag im Achtelfinale auf Marokko treffen und die Fußballinteressierten würden abermals fordern, dass Füllkrug doch nun endlich mal von Anfang an stürmen müsste. Stattdessen: Katar-Stimmung.
Früher wäre die unverzügliche Entlassung Flicks gefordert worden
Früher wäre nun die unverzügliche Entlassung Hansi Flicks gefordert worden. Die Bild-Zeitung hätte elf Flaschen symbolisch auf die Titelseite gehoben. Früher war auch nicht alles besser. Früher war Erich Ribbeck mal Bundestrainer. Heute nun aber nicht die Diskussion: Füllkrug oder Müller. Heute: Weihnachtsmarkt oder Fernsehabend. Gleichmut hat nicht nur Nachteile.
Kurz bevor die Mannschaft am Freitag in Doha den Flieger Richtung Deutschland besteigt, kündigt DFB-Präsident Bernd Neuendorf an, wie es nun weitergehen soll. Kommende Woche will er zusammen mit Trainer Hansi Flick, Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff und DFB-Vizepräsident Hans-Joachim Watzke die Lage besprechen. „Meine Erwartung an die sportliche Leitung ist, dass sie zu diesem Treffen eine erste Analyse vornimmt, eine sportliche Analyse dieses Turniers. Dass sie aber auch Perspektiven entwickelt für die Zeit nach dem Turnier mit dem Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land.“ Richtig, da war ja was. EM im eigenen Land 2024. Könnte schwer werden, Euphorie zu entfachen. Das viel beschriebene Lagerfeuer, an dem sich alle wärmen können, entfacht diese Nationalmannschaft nicht mehr. Die Partie gegen Costa Rica verfolgten 17,4 Millionen Menschen in Deutschland am Fernseher. Rund zehn Millionen weniger als bei vergangenen Turnieren – und auch 500.000 weniger, als das Finale der Frauen-EM dieses Jahr verfolgt haben.
Andererseits: Wenn es selbst weithin unbekannte Frauen schaffen, eine Fünftelnation vor den Bildschirmen zu versammeln – warum sollen denn die Männer nicht wieder das Land hinter sich vereinen? Mit Typen wie dem bambihaften Musiala. Mit Philipp Lahm als Chef des Organisationskomitees. Schwiegermutterliebling noch mit 39 Jahren. Zwischen dem katastrophalen EM-Aus 2004 und Sommermärchen lagen ja auch nur zwei Jahre.
Lediglich Thomas Müller deutet seinen Rückzug an
Oliver Bierhoff war schon dabei, als die Deutschen 2006 ihre sommerlange Party feierten. Er machte aus der Mannschaft die Marke „Die Mannschaft“. Bierhoff war hauptverantwortlich für die Quartierauswahl 2014 in Brasilien, als auch der Geist des Campo Bahia das Team ins Finale trieb. Er ist nun aber auch schon seit 18 Jahren beim DFB angestellt, war so etwas wie der Manager des Teams. Der 54-Jährige kann Bilanzen lesen, seine eigene fällt in den vergangenen Jahren mäßig aus. Zurücktreten aber mag er nicht, sagt aber gleichwohl, dass er um die „Mechanismen des Geschäftes“ wisse. Bedeutet: Sein Job ist in akuter Gefahr. Es werden schmerzhafte Wochen für den DFB und einige Spieler werden.
Auch Manuel Neuer hat gesagt, dass er einen Rücktritt ausschließt. Seine Leistungen bei der WM: eher Huhn als Falke. Einzig Thomas Müller deutet an, dass die Partie im Beduinenzelt-Stadion von al-Chaur wohl seine letzte im Dress mit dem Adler auf der Brust gewesen sein dürfte. Ohne personelle Umstrukturierungen aber kein Neuanfang. Unter anderem daran ist schon Joachim Löw nach der WM 2018 in Russland gescheitert. Ohne Neuanfang wohl auch keine Euphorie. Dabei bewiesen ja die Spiele gegen Spanien und Costa Rica, dass man sich immer noch gerne gefangen nehmen lässt von diesem wunderbaren Spiel.
Doch der Fußball im Allgemeinen hat das Rasenrechteck in Deutschland seit geraumer Zeit verlassen. Durchkommerzialisiert. Auch hier dröhnende Reklame, wo es früher hieß: Geht raus und spielt Fußball. Nun, das ist kein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Fußballs. In Spanien und England schaut es ähnlich aus. Diese Nationalmannschaften aber stehen im Achtelfinale der WM. Können von der Dachterrasse des 22. Stockwerkes sorgenlos nach unten blicken. Auf einen Hahn, der weit unten Probleme hat, die Zeichen der Zeit zu erkennen.