Es sei "eine ganz schlechte Idee, den Sport zu politisieren", warnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Mitte November, als die Kritik um den WM-Austragungsort Katar auch in Frankreich hohe Wellen schlug. Besänftigen wollte er, den Sport einfach Sport sein lassen. Wie schwer diese Linie durchzuhalten ist, zeigt sich spätestens nun, da die französische Nationalelf am Mittwochabend im Halbfinale auf Marokko trifft.
Die Kommentatoren sind sich einig: Es handelt sich um viel mehr als "nur" eine sportliche Begegnung. Zwischen der einstigen Kolonialmacht und dem ehemaligen Protektorat bestehen enge politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bande. Zuletzt herrschte diplomatische Eiszeit unter anderem, weil Paris die Visa-Vergabe an Marokkaner reduzierte, da sich das nordafrikanische Land wenig kooperativ bei der Rücknahme seiner illegal nach Frankreich gereisten Bürger zeigte. Ein Staatsbesuch Macrons Anfang 2023 soll die Wogen glätten.
Viele Marokkaner leben in Frankreich
700.000 Menschen marokkanischer Herkunft leben in Frankreich, in Marokko sind rund 100.000 Personen mit französischem Pass oder doppelter Staatsbürgerschaft gemeldet. Sie sind Bikulturelle, die oft ihre Unentschiedenheit, sogar Zerrissenheit beschreiben, seit das Halbfinal-Duell feststeht. Sein Herz schlage für Marokko, aber seine Heimat sei Frankreich, sagte der franko-marokkanische Humorist Élie Semoun.
Viele Emotionen vermischen sich auf beiden Seiten, Hoffnung und Unbehagen, (National-)Stolz und Enthusiasmus. Mit Marokko zieht erstmals ein afrikanisches Team in ein Fußball-WM-Halbfinale ein, und das in einem muslimischen Land. Seine "Löwen vom Atlas" kämpfen nicht nur für sich selbst, sagte Trainer Walid Regragui: "Wir haben für Afrika Geschichte geschrieben." Seine Mannschaft triumphierte bereits über Spanien, die zweite der einstigen europäischen Großmächte, die Marokko in der Geschichte besetzte. Ein Sieg heute Abend hätte zweifellos den Geschmack einer Revanche auf dem Fußballfeld, zumal sich viele Maghrebiner in Frankreich stigmatisiert, als "Bürger zweiter Klasse" fühlen. Fast ein Drittel der französischen Wähler stimmte bei den Präsidentschaftswahlen für rechtsextreme Parteien, die Stimmung gegen Einwanderer und Muslime machen. Sollten die "Bleus" gewinnen, wäre ein zweiter Weltmeistertitel hintereinander greifbar. Auch das wäre historisch.
Frankreich gegen Marokko: Emotional aufgeladenes WM-Halbfinale
Vor einem emotional so aufgeladenen Spiel stellt sich die Frage nach der Reaktion der Fans. In Brüssel kam es vor allem beim Sieg der marokkanischen gegen die belgische Mannschaft zu Ausschreitungen. Marokkanische Fans verbrannten die belgische Flagge, randalierten auf den Straßen. Am Samstag nach den Siegen der Marokkaner und der Franzosen gab es auf den Champs-Élysées in Paris, wo sich bis zu 20.000 Menschen drängten, Zusammenstöße mit den Einsatzkräften. Stadtmobiliar und Roller gingen in Flammen auf, 108 Menschen wurden festgenommen. Laut Journalisten vor Ort handelte es sich allerdings um eine kleine Minderheit gewaltbereiter Fans, während die große Mehrheit friedlich und glücklich feierte.
Dennoch werden heute Abend umfassende Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Allein in Paris kommen mehr als 2000 Polizisten und Gendarmen zum Einsatz. Schmerzhaft sind die Erinnerungen an ein Freundschaftsspiel gegen Algerien im Oktober 2021 in Paris, bei dem die französische Hymne und Nationalelf mit ihrem damaligen Star, dem algerisch-stämmigen Zinédine Zidane, ausgebuht wurden. Als schließlich algerische Fans außer Rand und Band den Rasen stürmten, musste das Match abgebrochen werden.
Präsident Macron sitzt auf der Tribüne
Französische Medien betonen allerdings, dass die Loslösung Algeriens von Frankreich deutlich blutiger vonstattenging als jene Marokkos. Die Stimmung wirkt im Vorfeld positiv. "Die schöne Begegnung", titelte die Zeitung Le Parisien, die von der gemeinsamen Freude am Sport, an diesem "Traum-Match" schreibt. Spürbar ist der Wunsch, nicht von vorneherein zu problematisieren, ganz Macrons Wunsch entsprechend, der heute Abend auf der Zuschauertribüne sitzen wird, natürlich nur aus sportlichem und keinerlei politischem Interesse.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar steht in der Kritik, auch in der Redaktion haben wir ausführlich darüber diskutiert. Eine Einordnung, warum wir das Sportevent dennoch ausführlich journalistisch begleiten, lesen Sie in diesem Text.