Sie haben bei der WM 2018 in Russland noch die Nationalmannschaft von Nigeria betreut. Wie haben Sie jetzt die WM in Katar verfolgt?
GERNOT ROHR: Ich hatte zum erste Male die Möglichkeit, mit meiner Familie – also meiner Frau und den beiden Kindern – die WM die ersten zehn Tage vor Ort wie ein Fan anzuschauen. Wir waren zu viert bei einem in der Fußball-Akademie arbeitenden Kollegen und konnten sieben Spiele sehen, darunter alle Vorrundenspiele der Franzosen, aber auch die ersten zwei der deutschen Mannschaft. Ein tolles Erlebnis für uns alle.
Hatten Sie die Hoffnung schon aufgegeben, dass mal ein afrikanisches Team ein WM-Halbfinale erreicht?
ROHR: Eigentlich nicht. Wie damals beim Mauerfall 1989 in Deutschland: Es gibt immer wieder Überraschungen im Leben. Für Länder, in denen seit vielen Jahren eine gute Fußball-Infrastruktur herrscht – davon gibt es in Afrika nicht viele Länder – konnte man so etwas erhoffen.
Haben Sie sich für Marokko gefreut?
ROHR: Wir haben uns alle vor dem Fernseher riesig über den Sieg gegen Portugal gefreut. Die defensive Stärke und taktische Disziplin dieser Mannschaft stechen hervor, dazu kommen einige überragende Einzelspieler, die wie Achraf Hakimi in großen Klubs wie Paris Saint-Germain spielen. Klar, mit Yassine Bounou haben sie einen überragenden Torwart, der Spiele entscheiden kann – wie Hugo Lloris bei Frankreich. Aber ganz wichtig ist die professionelle Organisation des Fußballs, die viel besser ist als in anderen afrikanischen Ländern. Das gilt auch für die heimische Meisterschaft.
Das marokkanische Team wirkt sehr europäisch, auch der französische Einfluss prägt dieses Team …
ROHR: … und insbesondere den Trainer. Walid Regragui hat als Spieler zum Ende seiner Karriere noch mit Olivier Giroud zusammengespielt. Er ist geprägt vom französischen Fußball. Es ist schon immer eine große Verbindung da gewesen, es arbeiten viele Trainer aus Frankreich in Marokko, das davon profitiert.
Trifft die Équipe Tricolore also auf eine Filiale?
ROHR: Das könnte man fast so sagen. In Marokko wird das vielleicht nicht gerne gehört, aber ein positiver französischer Einfluss ist im Fußball auf jeden Fall vorhanden. Natürlich gibt es zwischen Frankreich und den ehemaligen Protektoraten gewisse Spannungen, aber mein Eindruck ist, dass die Beziehung zu Marokko besser ist als zu Tunesien oder Algerien.
Wie gefällt Ihnen die französische Nationalmannschaft, die Spektakel wieder eher sehr dosiert anbietet?
ROHR: Spektakulär zu spielen ist heute immer schwieriger geworden, weil alle Nationalteams für eine WM gut vorbereitet und organisiert sind. Letztlich geht es um den Erfolg. Die Engländer hatten es im Viertelfinale geschafft, Kylian Mbappé fast aus dem Spiel zu nehmen, dafür mussten sich andere zeigen. Didier Deschamps ist mit seinem Vertrauen in Olivier Giroud mit seinen 36 Jahren eine Wette eingegangen, die er gewonnen hat – das spricht für den Trainer. Antoine Griezmann in seiner neuen Rolle als Spielmacher macht es auch hervorragend. Insgesamt gibt es eigentlich wenige Änderungen gegenüber 2018.
Die Ausfälle von Karim Benzema und Paul Pogba sind im Nachhinein auch kein Nachteil, weil beide gerne auch ihr Ego ausleben.
ROHR: (überlegt). Paul Pogba war eigentlich immer ein beliebter Mitspieler, auch wenn er auf dem Platz hin und wieder aufgefallen ist, das stimmt schon. Aurélien Tchouaméni spielt es auf der Pogba-Position hervorragend, er ist fast zehn Jahre in Bordeaux ausgebildet worden – schon in jungen Jahren ein beeindruckender Fußballer. Vergessen wir nicht, dass auch N’Golo Kanté oder Christopher Nkunku fehlen. Trotzdem wird alles gut kompensiert.
Für wen sind Sie in diesem Halbfinale?
ROHR: Ich drücke den Franzosen die Daumen, sie sind auch für mich der Favorit. Letzten Endes bin ich Franzose. Aber wenn Marokko gewinnen sollte, freue ich mich mit, denn sie haben die ganze arabische Welt in dem Stadion hinter sich. Die Franzosen spielen gegen eine Wand. Die Unterstützung für Marokko ist einmalig. Nicht nur ganz Afrika, sondern selbst Länder wie Syrien stehen jetzt hinter dieser Mannschaft.
Warum ist Marokko beispielsweise weiter als Nigeria, wo sie bis vor einem Jahr noch gearbeitet haben? Der sechsmalige WM-Teilnehmer mit weit mehr als 200 Millionen Einwohnern scheiterte Ende März in den Entscheidungsspielen gegen Ghana.
ROHR: Eine mangelhafte Infrastruktur und schlechte Ausbildung sind das Problem in solchen Ländern. Das zeigt sich in schlechten Bedingungen, heruntergekommenen Rasenplätzen oder verwahrlosten Stadien. Ich habe das in Lagos mit seinen 19 Millionen Einwohnern selbst erlebt. Die schlechte Organisation der eigenen Meisterschaft mit ständigen Unterbrechungen war in Nigeria ebenfalls ein Problem. Die meisten Vereine hatten nicht mal eine Jugendabteilung, obwohl so viele Fußball spielen. Alles lief über private Akademien, die mit der Ausbildung von Talenten schnelles Geld verdienen wollten.
Marokko kann also auch in dieser Hinsicht Vorbild sein?
ROHR: Sie waren es schon in der Pandemie, denn wir sind mit Nigerias Nationalelf dorthin geflogen, um das WM-Qualifikationsspiel gegen Liberia im November 2021 in Tanger in Marokko auszutragen (einen Monat später wurde Rohr kurz vor Beginn des Afrika-Cups entlassen, Anm. d. Red.).
Zur WM 2026 wird die Zahl der afrikanischen Startplätze von fünf auf neun erhöht. Ein richtiges Signal?
ROHR: Für Afrika ist das ein Segen und eine Motivation – aber auch eine Verpflichtung, noch mehr zu tun. Die Verbände müssen mehr arbeiten, um seriöse Entscheidungen zu treffen. Ich habe es am eigenen Leib erlebt, dass es daran fehlt. Marokko hat einen guten Verbandspräsidenten, der seit Jahren wichtige Weichen gestellt hat. Ich hoffe, dass andere Länder nachziehen.
Marokko hatte seinen Hut als WM-Ausrichter für 2026 in den Ring geworfen, unterlag in der Abstimmung dann aber deutlich der Dreifachbewerbung USA, Kanada und Mexiko. Würden Sie eine erneute Bewerbung empfehlen?
ROHR: Sie wurden als Kandidat von einigen völlig zu Unrecht ausgelacht, die nicht die guten Strukturen kannten. Durch die Aufstockung auf 48 Teams wird es wahrscheinlich alleine schwierig. Man wird sich da schon zusammentun müssen, die nächste WM wird ja nicht umsonst in drei Ländern ausgetragen.
Eine WM mit 48 Teams verteilt auf 16 Städte in drei Ländern wird das Kontrastprogramm zu Katar mit seinen kurzen Wegen. Was haben Sie aus ihrem Besuch in Doha von einer WM mitgenommen, die in Europa so umstritten ist?
ROHR: Kritik kam nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Frankreich! Nur ist von vielen Absichtserklärungen hier, man würde sich die WM nicht anschauen, kaum mehr etwas übrig geblieben. Interessant fand ich, dass man zuletzt beim Kabinenbesuch von Frankreichs Sportministerin Roxana Mărăcineanu bei einer Umarmung von Giroud sah, dass sie was in Regenbogenfarben angezogen hatte.
Kein wichtiges Signal?
ROHR: Ich bin dort für den Fußball hingefahren, und dafür war alles hervorragend organisiert, auch wenn die Reise für uns echt teuer war. Aber am Ende war es ein Erlebnis und auch die Kinder waren glücklich. Was ich bedauert habe, war das Drumherum um die deutsche Mannschaft. Wirklich schade. Die Geste mit der Hand vor dem Mund haben selbst in Frankreich nur einige wenige bewundert. Das wurde in Katar sehr schlecht aufgenommen. Dem deutschen Ansehen hat das geschadet, und die Leistung der Mannschaft war dann ja auch nicht gut. Die deutsche Geste war ein Eigentor, dazu gab es auch entsprechende Karikaturen hier.
Zur Person
Gernot Rohr kennt sich mit dem französischen und afrikanischen Fußball exzellent aus. Als langjähriger Spieler von Girondins Bordeaux gewann der gebürtige Mannheimer als Leistungsträger dreimal die französische Meisterschaft. Bis Ende der 90er Jahre leitete er die Nachwuchsarbeit in dem Klub. Nach verschiedenen Stationen arbeitete Rohr bis vor einem Jahr als Nationaltrainer von Nigeria, hatte zuvor die Auswahlen von Burkina Faso, Niger und Gabun betreut. Rohr besitzt seit vier Jahrzehnten die französische Staatsbürgerschaft. Der 69-Jährige lebt mit seiner aus Madagaskar stammenden Frau Fabrinah und den Kindern Elisa und Johann, zwölf und zehn Jahre, die beide begeistert Fußball spielen, in der Bucht von Arcachon.