Es ist dann tatsächlich noch etwas schiefgegangen, als Gavi den Ball am Fuß hatte. Direkt vom Mittelkreis versuchte der Künstler im knallroten Jersey einen allerletzten Heber. Die Kugel flog im hohen Bogen am Ziel vorbei und blieb vor der Leuchtbande liegen. Wenige Sekunden vorher war allerdings der Abpfiff beim höchsten WM-Sieg Spaniens gegen Costa Rica (7:0) erfolgt. Insofern beschrieb der finale Versuch nur das Naturell eines lernwilligen Lausbuben, der sich hernach vor Schulterklopfern und Lobeshymnen kaum noch retten konnte. Mehr als 40.000 Augenzeugen im Al Thumama Stadium staunten: gerade erst 18 und schon so gut.
Spanische Nationalmannschaft gilt als Favorit gegen Deutschland
Inmitten der „spanischen Sinfonie“ (Mundo Deportivo) stach der großartige Gavi als junger Dirigent heraus. Ausgebildet in „La Masia“, der berühmten Talentschmiede des FC Barcelona, in die Pablo Martín Páez Gavira, so sein bürgerlicher Name, als kleiner Junge kam, der von Los Palacios y Villafranca in der Provinz Sevilla auszog, um die Fußball-Welt zu erobern. Auch Nationaltrainer Luis Enrique artikulierte ausgesprochen viel Anerkennung: „Er ist einzigartiger Spieler, aggressiv mit dem Ball, aber auch aggressiv gegen den Ball.“ Es sei ein Vergnügen, „mit so einem Jungen zusammenarbeiten, der so viel mitbringt. Wir sind froh, ihn in unserem Team zu haben.“
Sein Ensemble ist klarer Favorit am Sonntag gegen Deutschland, auch wenn Spaniens Coach das natürlich nicht hören mag. Noch immer habe der vierfache Weltmeister eine herausragende Mannschaft, betonte der 52-Jährige. „Wir werden genauso versuchen, gegen Deutschland zu spielen“, sagte Enrique noch, der eine einzige Frage nach der „One-Love“-Binde sofort erstickte: „No comment!“ Kein Kommentar. Nichts soll bei den Iberern den Spaß am Spiel stören.
Die Ansammlung von Alleskönnern wirkte genauso beeindruckend wie die vielen Positionswechsel. Gavi glänzte gleichermaßen als Balleroberer und Ballverteiler – und traf in seinem 14. Länderspiel mit perfektem Spannstoß zum 5:0. Zwangsläufig hockte er dann auch im Scheinwerferlicht eines kinoähnlichen Saals: Der „Man of the Match“ hatte sich den Verbandsanzug eilig übergeworfen; wäre seine Mutter in Doha dabei, hätte sie dafür gesorgt, dass der Junge ordentlich angezogen vor der Weltpresse erscheint. Auf der einen Seite lugte der Hemdkragen heraus, auf der anderen Seite hing das Sakko schief über der Schulter.
Gavi ist der jüngste Torschütze bei einer WM seit über 50 Jahren
Fragen auf Englisch mussten ihm übersetzt werden, seine Antworten bestanden aus kurzen Sätzen und klangen ungefähr so: „Ich bin sehr stolz, ich bin wirklich froh.“ Angeblich wusste Spaniens Nummer neun nicht einmal, dass er mit 18 Jahren und 110 Tagen der jüngste Torschütze bei einer Weltmeisterschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert war. Unterboten nur von Brasiliens Ikone Pelé, der bei der WM 1958 noch nicht volljährig traf. Was soll ein Kicker mit fast kindlichem Antlitz zu solchen Vergleichen Gescheites sagen?
Wunderknabe Gavi bringt mit seinem kongenialen Partner Pedri, der beim zweiten WM-Gruppenspiel am Sonntag 20 Jahre alt wird, viele Anlagen mit, um für den spanischen Fußball die nächste Epoche zu prägen. „Pedri und ich sind sehr gute Freunde, er ist ein toller Spieler – es ist sehr einfach mit ihm zusammenzuspielen“, erklärte Gavi, dessen Ausstiegsklausel beim FC Barcelona angeblich bei einer Milliarde Euro liegen soll. Er und sein Kumpel sind längst als die legitimen Nachfolger eines Andrés Iniesta und Xavi Hernandez auserkoren.
Spanien spielt ohne klassischen Torjäger
Ihnen steht im Nationalteam der treue Klubkamerad Sergio Busquets als Absicherung zur Seite, der mit 34 Jahren mal gesagt hatte, die Jungstars seien schwieriger zu erziehen als seine Kinder. Ganz ernst war das nicht gemeint. Auf dem Platz wirken sie fast überreif. Gavi und Pedri sind nur die Leuchttürme, denn der spanische Jungbrunnen sprudelt unaufhörlich: Als Doppeltorschütze Ferran Torres (22 Jahre) ging, gaben Ansu Fati (20) oder Nico Williams (20) ihr WM-Debüt.
Die Generation Gavi führt ihr Tiki-Taka 2.0 nicht ganz so verspielt auf wie ihre Vorgänger. Gegen überforderte Mittelamerikaner haben sie von 1063 Pässen sage und schreibe 1003 zum Mitspieler gebracht, aber Ballbesitz ist weniger Selbstzweck, sondern folgt dem Ziel, mit Tempo Tiefe und Torgefahr zu erzeugen. Das klappt auch ohne klassischen Torjäger. Völlig verzückt zeigte sich auch der spanische König. „Noch nie habe ich so ein Spiel erlebt, mit so einem Ergebnis. Das Ergebnis ist wichtig, aber die Selección so spielen zu sehen, war ein wahrer Genuss“, richtete Felipe VI aus, der bei seinem Kabinenbesuch gerade Gavi besonders feste gedrückt haben soll.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar steht in der Kritik, auch in der Redaktion haben wir ausführlich darüber diskutiert. Eine Einordnung, warum wir das Sportevent dennoch ausführlich journalistisch begleiten, lesen Sie in diesem Text.