Als der Ball am Ende seiner herrlichen Flugbahn das Netz ausbeulte, schien doch noch alles gut zu werden. Wichtiges Spiel gedreht, das Schicksal auf seine Seite gezwungen und die sportliche Zukunft in der eigenen Hand haltend. Nichts wurde gut. Vier Tage, nachdem Toni Kroos in letzter Sekunde zum Sieg gegen Schweden getroffen hatte, schied die deutsche Nationalmannschaft nach einer 0:2-Niederlage gegen Südkorea aus.
Die WM 2018 endete an einem Mittwochabend in Kasan. Mit ihr endete auch das Vertrauen in Joachim Löw, der sich anschließend zwar noch drei Jahre im Amt hielt, der in Mannschaft und Öffentlichkeit aber nie mehr jenen Rückhalt genoss, den er sich dereinst mit dem WM-Titel 2014 erarbeitet hatte.
Auch Südkorea galt bei der WM 2018 als leichter Gegner
Kasan liegt 2022 auf der arabischen Halbinsel, inmitten der katarischen Wüste und heißt Al-Chaur. Hier soll die deutsche Nationalmannschaft am Donnerstag das abermalige Aus in der Vorrunde vermeiden. Wieder vier Tage nach einem wichtigen Treffer in der Schlussphase. Wieder gegen einen Gegner, der unter Fußballfans eigentlich unter dem Prädikat "dankbar" einsortiert wird. Aber wer ist bei dieser WM schon ein dankbarer Gegner? Saudi-Arabien gewinnt gegen Argentinien, Iran gegen Wales, Marokko gegen Belgien, Japan gegen Deutschland. Südkorea galt vor vier Jahren auch als eher mühelos aus dem Weg zu räumende Hürde.
Ilkay Gündogan konnte in Kasan von exponierter Stelle aus beobachten, wie sich die Mannschaft dem Aus entgegenzitterte. Der Mittelfeldspieler saß auf der Ersatzbank. Die Wochen zuvor hatte eine Diskussion bestimmt, ob er denn überhaupt das Nationaltrikot tragen dürfe, nachdem er und auch Mesut Özil dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan Trikots ihrer Vereinsmannschaften samt Widmung geschenkt hatten. In Katar nun schien die Diskussion um eine Spielführerbinde die Mannschaft an der Erfüllung ihrer sportlichen Aufgaben hindern. Und doch ist vieles in Katar anders. Der "One-Love"-Diskurs scheint zumindest vorerst abgehakt. Das Team präsentiert sich auf und abseits des Platzes gefestigter als jenes von 2018, als der Graben zwischen erfahrenen und jungen Spielern allzu offensichtlich war.
Selbst der als DFB-Direktor der Diplomatie verpflichtete Oliver Bierhoff räumt im Nachgang ein: "Da konnte man schon stärkere Spannungen spüren zwischen jüngeren und älteren Spielern." In Katar wiederum habe man "eine sehr homogene Einheit da, die ein Ziel verfolgt." Sie machte das auf eine attraktive Art und Weise, deren einziges Problem darin liegt, dass nach zwei mehr als ordentlichen Spielen erst ein Punkt auf der Habenseite verbucht ist. In Russland war der Plan Löws schlicht unbrauchbar. Im Nachgang bezeichnete er ihn selbst als "beinahe arrogant". Das deutsche Team wollte den Gegner mit einer ultraoffensiven Spielweise erdrücken und erlag dem Würgegriff des Pragmatismus.
Die beiden Vorrundenspiele gegen Japan und Spanien aber zeigen, dass die deutsche Mannschaft zum einen fähig ist, spielerische Lösungen zu finden (wie gegen Japan), und zum anderen auch fähig ist, druckvolle Phasen des Gegners (wie gegen Spanien) einsatzstark zu überstehen. Wenn nur das Problem der fehlenden Tore nicht wäre. Mit dem Treffer Füllkrugs scheinen die Deutschen allerdings das Glück vorerst auf ihre Seite gebracht zu haben. "Aber das Momentum wechselt bei dieser WM so oft, teilweise auch während des Spiels", und so mag sich Gündogan darauf nicht verlassen. Er weiß, wie es 2018 lief. Und wahrscheinlich ist das für die jetzige Mannschaft nicht von Nachteil.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar steht in der Kritik; auch in der Redaktion haben wir ausführlich darüber diskutiert. Eine Einordnung, warum wir das Sportevent dennoch ausführlich journalistisch begleiten, lesen Sie in diesem Text.