Der Verband gibt sich auch äußerlich Mühe, Abstand zur Vergangenheit herzustellen. Den Slogan "Die Mannschaft" hat man vor einigen Monaten einkassiert, er wirkte vor allem in Zeiten des Misserfolgs fehl am Platz. Vor vier Jahren in der Abgeschiedenheit Watutinkis prangte im Medienzentrum noch der Hashtag #zsmnn in jenem Saal, in der der DFB seine Pressekonferenzen abhielt. Für die baulichen Begebenheiten ist der Deutsche Fußball-Bund nicht in Haftung zu nehmen, doch glich der Raum arg einem Amphitheater. Hashtags und große Bühnen gibt es in dem funktional gehaltenen Medienzentrum in Al-Ruwais nicht. Im Norden Katars bereitet sich die deutsche Nationalmannschaft auf die für sie am kommenden Mittwoch startende Weltmeisterschaft vor.
Wie vor vier Jahren lud auch diesmal der DFB-Präsident zur Eröffnungspressekonferenz. Dass in Russland noch Reinhard Grindel pastoral im Amphitheater sprach, wirkt länger her als lediglich vier Jahre. Skandale, Macht- und Personalintrigen haben den Verband altern lassen. Seit acht Monaten steht nun Bernd Neuendorf dem DFB vor. Und genau wie Grindel konnte auch er die WM nicht so starten, wie er es sich gewünscht hätte. Sollte Grindel noch die Thematik um Mesut Özil und Ilkay Gündogan einfangen (woran er krachend scheiterte), die dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan Trikots überreicht hatten, wollte und konnte auch Neuendorf seinen Blick nicht ausschließlich auf die sportlichen Perspektiven des deutschen Teams richten.
Der DFB stellt sich gegen Fifa-Chef Infantino
Anders als Grindel scheint Neuendorf aber einen Plan zu haben, wie er mit einer äußerst sensiblen Thematik umzugehen gedenkt. Der 61-Jährige begegnet den Menschenrechtsverletzungen in Katar und der tumben Sprachlosigkeit der Fifa mit einer für Funktionäre ungewohnten Offenheit. Unlängst gab der DFB bekannt, dass er Fifa-Präsident Gianni Infantino bei der kommenden Wahl im März nicht unterstützen will. Da es aber auch keinen Gegenkandidaten geben wird, läuft der Verband so Gefahr, den Schweizer gegen sich aufzubringen, ohne dass sich eine Alternativlösung auftun würde.
Noch wichtiger aber war Neuendorf, zusammen mit der Nationalmannschaft gegen den gar nicht mal so latenten Vorwurf vorzugehen, bei den bisherigen Äußerungen zu Menschenrechtsverletzungen in Katar handle es sich lediglich um Symbolpolitik. Man habe sich in der Mannschaft gefragt: "Was können wir tun?" Die Überlegungen führten zu einer Aktion, in der die Nationalspieler über fünf Jahre hinweg jeweils 200.000 Euro an ein SOS-Kinderdorf in Nepal zahlen. Etwa 400.000 Nepalesinnen und Nepalesen arbeiten in Katar. Es gebe einen "enormen Migrationsdruck", so Neuendorf. Diese wolle man mindern, indem Geld in Bildung investiert wird. Er wollte aber nicht ausschließen, dass während der Weltmeisterschaft auch sichtbare Zeichen gegen Menschenrechtsverletzungen gesetzt werden. So wird Manuel Neuer aller Voraussicht nach am kommenden Mittwoch gegen Japan auch mit der bunten "One Love"-Kapitänsbinde auflaufen, die der Fifa eher weniger gut gefällt. Einer möglichen Geldstrafe des Weltverbandes sieht Neuendorf gelassen entgegen.
Offenbar hat Neuendorf Gefallen daran gefunden, die Fifa offen zu kritisieren. So führte er aus, dass er einen Brief Infantinos "irritiert und verstört" wahrgenommen habe, in dem der Schweizer dazu aufrief, für die Zeit der Weltmeisterschaft diese ganzen unliebsamen Themen von wegen Menschenrechte und Gedönse doch mal sein zu lassen . In Fahrt gekommen, äußerte er schließlich noch sein Unverständnis, dass die Fifa es der dänischen Nationalmannschaft verboten hat, Trikots mit der Aufschrift "Menschenrechte für alle" zu tragen. Seiner Meinung nach handle es sich dabei nicht um eine politische Äußerung, sondern um eine Einstellung, die "allgemeingültig ist und die sich die Fifa in ihren Grundsätzen auf die Fahne geschrieben" habe. Statt hier einzugreifen, hätte man sich lieber zu den Protesten im Iran äußern sollen. "Diese mutigen Frauen verdienen Aufmerksamkeit und Unterstützung", so Neuendorf.
Es war eine ruhig im Ton, aber scharf in der Ausführung vorgetragene Grundsatzrede. Es ist ein der Zeit angepasster Ton. Einer, wie man ihn jahrelang nicht vom DFB gehört hat, der sich ja nicht ganz zu Unrecht den Vorwurf gefallen lassen musste, außer Sonntagsreden gesellschaftspolitisch nicht durchzudringen. Neuendorf nutzte dafür die große Bühne der Weltmeisterschaft. Um Fußball aber ging es nur am Rande. Nur so viel: "Ich bin überzeugt, dass wir einen positiven Auftakt haben und gegen Japan sicherlich gewinnen." Aber das geriet zumindest am Freitag zur Nebensache.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar steht in der Kritik, auch in der Redaktion haben wir ausführlich darüber diskutiert. Eine Einordnung, warum wir das Sportevent dennoch ausführlich journalistisch begleiten, lesen Sie in diesem Text.