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Fußball-WM 2022: Bordstein statt Wüsten-Luxus: Wie Arbeitsmigranten in Katar die WM verfolgen

Fußball-WM 2022

Bordstein statt Wüsten-Luxus: Wie Arbeitsmigranten in Katar die WM verfolgen

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    Arbeiter, überwiegend aus Indien, Bangladesch, Nepal und anderen ärmeren Ländern Asiens, verfolgen im "Asian Town Cricket Stadium" das Spiel Argentinien gegen Australien auf einer Großbildleinwand.
    Arbeiter, überwiegend aus Indien, Bangladesch, Nepal und anderen ärmeren Ländern Asiens, verfolgen im "Asian Town Cricket Stadium" das Spiel Argentinien gegen Australien auf einer Großbildleinwand. Foto: Christian Charisius, dpa

    Der Mann mit der Mütze scheint die Blicke in seinem Rücken zu spüren, obwohl er eigentlich die ganze Zeit vorne auf die große Leinwand schaut. Dort läuft das Achtelfinale von Brasilien gegen Südkorea, längst steht es 4:0, und er will eigentlich keinen Moment verpassen, als er sich umdreht. Er fällt ja auf, weil er bei für europäische Verhältnisse immer noch sommerlichen Temperaturen gegen Mitternacht eine gestreifte Kopfbedeckung trägt. Und ein eigenwilliges Messi-Trikot, dass ihn von den meisten Männern hier unterscheidet. Er hält aus Überzeugung zu Argentinien, zu den Gegnern von

    Ahmed also steht jetzt einfach in einem alten Cricket-Stadion und schaut gebannt auf die Videowand. Dann fällt das Ehrentor für Südkorea, und er jubelt kurz.  In einem Argentinien-Jersey, das sich erst gar keine Mühe gibt, wie ein Original auszusehen. Die eine Hälfte hellblau, die andere weiß; das richtige Trikot der „Albiceleste“ hat drei hellblaue Längsstreifen. Und nicht vorne auf der Brust in Großbuchstaben den Namen Messi, den Ahmed seit der Kindheit anhimmelt. Er sagt, er ist glücklich, seit drei Jahren in Katar arbeiten zu können. Er arbeite als Fahrer, das meiste von seinem Geld schickt er seiner Ehefrau. Was sagt er zur WM in der Wüste? Daumen hoch!

    Arbeitsmigranten bei der Fußball-WM: "Katar ist wunderschön"

    Umgerechnet 500 Euro im Monat, heißt es bei vielen, verdienen sie ungefähr, davon fließt das Allermeiste zurück an die Familie, die sie fast nie sehen. Macht so ein Leben glücklich? Es liegt nicht nur ein etwas strenger Geruch, sondern auch eine merkwürdige Schwere über Asian Town, wie das hier heißt. Fürs Brasilien-Spiel kommen in diese Fanzone bei freiem Eintritt so viele Menschen, dass sie gar nicht alle durch die Sicherheitsschleusen gelangen. Das Wachpersonal, viele davon aus Katars einzigem Nachbarland Saudi-Arabien, nimmt sich wichtig; sie lassen irgendwann niemanden mehr herein, obwohl es genug Platz hätte. Denn nicht nur in dem Stadion steht eine Großbildleinwand, wo die meisten auf dem heruntergetrampelten Gras hocken, sondern auch auf dem umfunktionierten Busparkplatz. Die blanken Bordsteine sind eine beliebte Fläche, um im Schneidersitz das Spiel zu sehen. Die meisten ziehen ihre heruntergelaufenen Sandalen aus und setzen sich darauf. Abgesehen von einer Shoppingmall glitzert und funkelt in der Umgebung wenig bis gar nichts. Der englische Ton ist laut. Angeregt oder gar aufgeregt unterhalten sich die wenigsten. Was denken sie? Und wie geht es ihnen?

    Vielleicht sagen drei Männer mehr, die leicht als Brasilien-Fans auszumachen sind. Sie tragen dieselben bunten Perücken und alle ein Neymar-Trikot. Makhan reicht sofort die Hand. Er ist 28 Jahre alt und mit zwei Kumpels da. Er arbeitet seit zwei Jahren als Elektriker. Auf Katar will er nichts kommen lassen. „Es ist viel besser als in Sri Lanka.“ Dann zählt er Plätze auf, die ihm gefallen: Corniche, Al Bidda-Park oder Souq Waqif. Und er sagt: „Katar is beautiful.“ Von ihrer Unterkunft, das ist später beim Trio herauszuhören, würden sie vielleicht nicht behaupten, aber das tue jetzt nichts zu Sache. Man freut sich auf die nächsten Spiele. Freitagabend, wenn wieder Neymar spielt. Und dann ein Halbfinale gegen Argentinien, das wäre was – und lenkt ab vom Alltag.

    Makhan und seine Freunde sind Fans von Brasilien-Star Neymar.
    Makhan und seine Freunde sind Fans von Brasilien-Star Neymar. Foto: Frank Hellmann

    Fußball-WM in Katar: Arbeitsmigranten sind Haupternährer ihrer Familien

    15.000, vielleicht auch 20.000 Menschen, beschränken sich auch hier in jeder Hinsicht auf das Nötigste. Es gibt nur ganz wenige Verpflegungsstände. Eine Bretterbude steht verloren in der Ecke. Die Fanta oder Cola kostet nur fünf Riyal, umgerechnet 1,30 Euro, ein Drittel vom Preis in den meisten Restaurants. Die Verkäufer stehen sich trotzdem die Füße in den Bauch, was sie aber nicht groß stört, weil sie so ungestört mitschauen können. Die Leute hier, sagt einer, drehen jeden Riyal um. Alles, was nicht ausgegeben wird, ist zu Hause besser angelegt. Die Männer sind die Haupternährer ihrer Familien. Von Frauen, Kindern und Angehörigen.

    Nach Angaben der Weltbank haben die Überweisungen der Gastarbeiter nach Südostasien 2021 insgesamt rund 150 Milliarden Euro betragen. Das meiste kam aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, aber der Anteil Katars wächst. Zum Vergleich: Der gesamte Bundeshaushalt liegt bei knapp unter 500 Milliarden Euro. Ein Drittel allein dieser Summe fließt also in Länder, die dadurch ihren Zusammenbruch verhindern. Aber natürlich wiegt Geld niemals die Toten auf, über die im Vorlauf viel gesprochen worden ist. Während der WM hat das Organisationskomitee fast nebenbei die Zahl genannt, die auf den WM-Baustellen ums Leben gekommen sind. 414 sind es nach offizieller Lesart, die zwischen 2014 bis 2020 die Schufterei für die bald schon noch mehr benötigten Stadien bei mitunter unmenschlichen Bedingungen mit dem Leben bezahlt haben. Es ist eine Schande, wenn an der Unterhaltungsindustrie Fußball dieses Blut klebt. Wie verlässlich diese Angaben sind, ist fast so unmöglich herauszufinden wie die Gefühle der Arbeitsmigranten beim Fußballgucken zu deuten.

    Auch Fifa-Boss Infantino müsste sich bei den Arbeitsmigranten zeigen

    Trotzdem machen sie hier keinen unglücklichen Eindruck. Einfache Genügsamkeit scheint vorzuherrschen, dabei sein zu können, auch wenn sich hier niemand ein Ticket für eines der acht WM-Stadien leisten kann. Wer dieses Turnier länger begleitet, gewöhnt sich irgendwie daran, dass Helfer in eigentlich viel zu großer Zahl immer da sind. Sogar beim Public Viewing gibt es einen, der Müll vom sandigen Boden auffegt. Er wird kaum beachtet. Es gibt immer was zu tun in Katar, und am meisten erzählen davon ja Taxifahrer, weil sie gewöhnt sind, mit ausländischen Gästen zu reden.

    Ihr Job ist auch im Sommer erträglich, weil selbst die älteste Blechkarosse eine funktionierende Air Condition hat. Gleichwohl: Ihre Schichten dauern oft zehn, elf Stunden am Stück, mit einer Stunde Pause. Dann geht es in die Unterkunft, es wird gegessen, geschlafen – die nächste Schicht. Sechs Tage die Woche. Mahammad, der einen ohne Rechnung für 150 Riyal – also umgerechnet 30 Cola - aus dem Lusail Stadium hier hingefahren hat, erzählt, dass er neuerdings ohne Zustimmung den Job wechseln und das Land verlassen kann, in dem der Mann aus Bangladesch seit drei Jahren lebt. Er möchte nach Deutschland, „das ist leichter geworden.“ Immer nur über das breite Asphaltband von Doha zu donnern, ist langweilig.

    Die neuen Gesetze, versichert er, seien eine Hilfe. Ob sie ohne die WM gekommen wären? Was ist richtig oder falsch? Pauschale Urteile helfen nicht, aber vielleicht hat Katar mittlerweile doch Spielregeln gemacht, die toleranter sind als viele dachten. Eine Partie in einer puristischen Fanzone zu erleben, bringt auf jeden Fall mehr als manches Spiel in einem prächtigen Stadion. Eigentlich müsste auch Gianni Infantino sich hier mal blicken lassen. Der Fifa-Präsident, als Schauspieler gut geübt, müsste wohl nur sein weißes Hemd gegen eines der nachgemachten Trikots von Messi oder Neymar eintauschen, dann würden ihm einige wohl auf die Schulter klopfen. Das hat er doch so gerne bei seiner „biggest show on earth“, die in Katar noch bis übernächsten Sonntag läuft. Wo dann wohl der Mann mit der Mütze steht?

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