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Fußball-WM 2022: Der Gewinn des WM-Titels ist für Argentinien eine große Chance

Fußball-WM 2022

Der Gewinn des WM-Titels ist für Argentinien eine große Chance

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    Tausende Menschen sammelten sich auf den Straßen Argentiniens wie hier im Seebad Mar del Plata.
    Tausende Menschen sammelten sich auf den Straßen Argentiniens wie hier im Seebad Mar del Plata. Foto: David Izquierdo, telam

    Es dauerte ein paar Stunden, bis es auch die Argentinier aus den weniger betuchten, dafür aber weit entfernten Vierteln auf die Avenida Callao schaffen. Aus den klapprigen Bussen sind Gesänge zu hören, die Menschen stecken ihre Köpfe aus den Fenstern. „Argentina Campeon“, rufen sie – Argentinien Weltmeister. „Cada dia te quiero mas“ – Jeden Tag mag ich Dich mehr. Dann reiht sich auch dieser Bus in die endlos lange Autokarawane ein, die versucht, so nahe wie möglich an den Obelisken heranzukommen. Vom Nachmittag bis weit nach Mitternacht dauert dieses Spektakel. Eine gigantische Party. 

    Für alle Argentinier unter 40 Jahren auch die erste Erfahrung eines WM-Gewinns, so lange liegt der letzte Triumph von Diego Maradona und Co. 1986 schon zurück. Auch deshalb platzt aus ihnen die Freude heraus. Überall besprühen sich die Menschen mit Schaum, es kreisen Sektflaschen. Ein paar Waghalsige erklimmen die Laternen, ein Verrückter klettert sogar auf die Spitze des Obelisken.

    Das Gesicht von Lionel Messi wurde in Buenos Aires auf den Obelisken projiziert.
    Das Gesicht von Lionel Messi wurde in Buenos Aires auf den Obelisken projiziert. Foto: Matilde Campodonico/AP, dpa

    Der dritte WM-Titel und Messi-Trikots vereinen das so zerrissene Argentinien

    Es ist ein Moment, der auch optisch zeigt, dass die Freude über den insgesamt dritten WM-Titel das Land vereinen kann. Die Luxuskarossen und die Rostlauben, die Armen und die Reichen – sie alle vermischen sich in einer großen Traube stundenlangen Jubels. Ihr Einheitsoutfit: Das weiß-himmelblaue Trikot mit der Nummer 10 und dem Namen Messi hinten drauf. Es lässt zumindest an diesem Tag soziale Grenzen, Hierarchien oder Klassen verschwinden. „Der Pokal nach der Kampagne der Entmutigung“, kommentiert das linksgerichtete Blatt Pagina 12.

    Das argentinische Volk, sonst so sehr in zwei politische Lager gespalten, versammelt sich in diesen Tagen hinter einem Lagerfeuer: „La Scaloneta“ – wie das Team inzwischen nach dem Trainer Lionel Scaloni gerufen wird. Die Journalistin Pola Oloixarac von La Nacion´ beschreibt diesen zusammenschweißenden Effekt der „Albiceleste“ mit einem durchaus passenden Vergleich: „Die Nationalmannschaft ist das, was die britische Krone für England ist. Sie vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und lässt eine Frusttoleranz zu.“

    Die wirtschaftliche Lage Argentiniens ist dramatisch

    Die Lage im Land ist ansonsten dramatisch: Im Vorjahresvergleich lag die Inflation zuletzt bei rund 88 Prozent, alles und jeder jagt in Argentinien nach dem US Dollar, denn der Peso in der Tasche verliert praktisch im Wochentakt an Wert. Demonstrationen auch aus dem eigenen Lager machen dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernandez das Leben schwer. Er verzichtete auf eine Reise nach Katar, wollte offenbar im Falle einer Niederlage unerfreuliche Bilder vermeiden. Er traf die falsche Entscheidung, wieder einmal. 

    Seine eigene Vizepräsidentin Cristina Kirchner, selbst Präsidentin von 2007 bis 2015, dominiert ohnehin die Berichterstattung und treibt Fernandez vor sich her. Sie ist und bleibt der emotionale Gradmesser der argentinischen Politik. Gerade erst wurde sie zu sechs Jahren Haft wegen Korruption verurteilt. Kirchner wirft den Medien und der Justiz eine Hexenjagd und mafiöse Methoden vor und sieht sich als Opfer politischer Verfolgung. Die Opposition um Ex-Präsident Mauricio Macri begrüßt das Urteil. Doch das Verfahren hat den Graben noch einmal vertieft, die beiden Lager noch unversöhnlicher auseinanderdriften lassen, wozu auch ein gescheiterter Attentatsversuch auf Kirchner vor Monaten beitrug. Das alles ist seit Sonntag vergessen. Vorerst. Wie lange, das wird sich noch zeigen.

    Für Argentiniens Präsident Alberto Fernandez bietet der WM-Titel eine unerhoffte Chance

    Für Fernandez ist dieser Sieg eine große, unverhoffte Chance. Die Stimmung in seinem Land dürfte sich trotz der allgemeinen Umstände erst einmal verbessern. Im letzten Monat gelang es, die Inflationsraten zu stabilisieren, der Ausblick auf das kommende Jahr ist nicht mehr ganz so schlecht wie noch vor ein paar Monaten. Und in der Regel färbt so ein epischer Triumph dann auch auf das Wahlverhalten ab. Der WM-Triumph hat Fernandez eine unverhoffte Chance geschenkt, auf der Welle des Erfolgs noch einmal das Ruder herumzureißen. Ende nächsten Jahres stehen in Argentinien Präsidentschaftswahlen an. Noch ist nicht klar, ob Fernandez noch einmal antritt oder der Superminister Sergio Massa (Wirtschaft) für das Regierungslager ins Rennen geht.

    Die mächtigste Frau im Land, Cristina Kirchner, die immer stets auf etwa 25 bis 30 Prozent feste Wahlklientel bauen kann, was meist für den Einzug in eine Stichwahl reicht, hat angekündigt, nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren zu wollen. Doch ein geflügeltes Wort in Buenos Aires sagt: In Argentinien ändert sich in zwei Wochen alles, aber in 30 Jahren nichts. 

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