Wenn Leonardo in die Offensive geht, zählen Tabus nicht mehr viel. Während der WM 1994 brach der Brasilianer einem Gegenspieler per Ellenbogen den Schädel. Er war am Trikot gezogen worden. 2013, inzwischen als Sportdirektor beim französischen Spitzen-Klub Paris Saint-Germain, rempelte er einen Schiedsrichter vor laufender Kamera an. Er fühlte sich nach einem 1:1 ungerecht behandelt, wurde anschließend für über ein Jahr gesperrt und musste PSG verlassen. Seit 2019 ist er zurück beim Scheich-Klub, körperliche Übergriffe sind seitdem nicht mehr bekannt. Mit offenem Visier auf jeden loszugehen, der ihm in die Quere kommt, hat er aber nicht verlernt.
„Deutsche Klubs, allen voran Bayern München, Leipzig und Borussia Dortmund, fallen über junge Spieler her“, sagte Leonardo gegenüber der französischen Tageszeitung Le Parisien. „Sie rufen Eltern, Freunde, die Familie, die Spieler selbst an, und das selbst bei Spielern, die noch nicht mal 16 sind. Sie verdrehen den jungen Leuten die Köpfe.“ Dass ein Top-Funktionär namentlich und so deutlich die europäische Konkurrenz kritisiert, ist durchaus außergewöhnlich. Ein Vorgang, aus dem Hilflosigkeit spricht. Dem französischen Serienmeister laufen – wie der gesamten französischen Liga – die Talente davon. Bevorzugtes Ziel: Deutschland.
Bayern-Talent Tanguy Nianzou verließ Frankreich ablösefrei
Tanguy Nianzou ein Paradebeispiel. Er schloss sich 2016 als 14-Jähriger der Nachwuchs-Akademie von Paris Saint-Germain an und entwickelte sich dort zu einem der größten Talente im Weltfußball. Beobachter bescheinigen ihm Variabilität, Kopfball- und Zweikampfstärke, hohe Spielintelligenz, dazu gute technische Fähigkeiten und einen sicheren Spielaufbau. Kurz: Nianzou bringt – trotz noch mancher Unkonzentriertheit – alles mit, was ein Innenverteidiger auf Top-Niveau braucht. Gezeigt hat er das in rund einem Dutzend Spiele für die Pariser Profis. Jetzt ist er zum FC Bayern gewechselt. Mit gerade 18 Jahren und ablösefrei. Es verwundert nicht, dass Leonardo den Wechsel, gelinde gesagt, bedauert.
Nianzou ist der sechste Franzose, der jetzt bei den Münchnern unter Vertrag steht. Darauf angesprochen, frohlockte Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge jüngst in einem Interview mit France Football: „Französische Spieler passen aufgrund ihrer Mentalität und ihres Spielstils gut zu Bayern. Wir sind mit all unseren Franzosen zufrieden. Wir sprechen über das Weltmeisterland“, erklärte der Vorstandsvorsitzende sein Faible. Am spektakulärsten jedoch sei die französische Ausbildung: „Sie ist einzigartig. Die Spieler sind physisch, technisch und taktisch sehr gut vorbereitet.“
27 Franzosen stehen in Deutschland unter Vertrag
In der Saison 2012/2013 standen drei französische Spieler bei Bundesligisten unter Vertrag. Aktuell sind es 27. Zu den spektakuläreren Transfers des Transfersommers 2019 zählten Christopher Nkunku (RB Leipzig, von PSG), Moussa Diaby (Bayer Leverkusen, von PSG) und Marcus Thuram (Borussia Mönchengladbach, von EA Guingamp). Vorangetrieben und gar zum Geschäftsmodell gemacht hat diese Entwicklung aber Mainz 05. Die Strategie, französische Talente zu holen, um sie später für deutlich mehr Geld zu veräußern, hat aus dem Karnevals- einen grundsoliden Bundesliga-Klub gemacht.
Verantwortet wird dieser Weg von Sportvorstand Rouven Schröder. „Grundsätzlich schauen auch wir als erstes auf dem deutschen Markt, allerdings ist die Konkurrenz um gewisse Profile und bestimmte leistungsstarke Spieler groß“, erklärt Schröder gegenüber unserer Redaktion. Gewisse Gehaltsvorstellungen und Ablösesummen könne der Verein nicht stemmen. „Daher müssen wir auf den ausländischen Markt ausweichen. In Frankreich gibt es viele Talente, die optimal in die Bundesliga passen und auch gerne hier her kommen.“
Warum die Bundesliga bei französischen Spielern so beliebt ist, liegt für Schröder auf der Hand: „Uns hilft, dass die sportliche Ausbildung und das Entwicklungspotenzial über die Bundesliga von ihnen als größer angesehen werden als in der eigenen Liga. Die Bundesliga bietet eine Top-Infrastruktur und ist hervorragend organisiert, das sind optimale Bedingungen für die Weiterentwicklung der Spieler.“
Paris Saint-Germain im Streit mit deutschen Vereinen
Eine wichtige Rolle spielt nach Ansicht von Schröder auch ein Beispiel-Effekt. Abdou Diallo etwa kam 2017 für fünf Millionen Euro aus Monaco nach Mainz, entwickelte sich schnell zum Stammspieler und ging nur ein Jahr später zu Borussia Dortmund. Kostenpunkt: 28 Millionen Euro.
Wiederum nur ein Jahr später wechselte der Verteidiger zurück in seine Heimat. Abnehmer für 32 Millionen Euro war Paris Saint-Germain. Schröder ist sich sicher: „Das spricht sich herum und macht uns interessant.“ Inzwischen hätten die Preise auf dem französischen Markt zwar angezogen. „Aber man muss auch investieren, um einen Mehrwert zu schaffen.“
PSG-Sportdirektor Leonardo möchte dem Exodus der Talente aus Frankreich künftig einen Riegel vorschieben. Wie? „Vielleicht sollten die Regeln verändert werden, um die französischen Klubs zu schützen.“ Konkreter wurde er nicht. Sein Pendant von Borussia Dortmund, Michael Zorc, reagierte bei Bild jedenfalls eindeutig: „Ich muss feststellen, dass Leonardo da offensichtlich einem Irrtum unterliegt. In der Regel ist es nämlich genau andersrum, als er es darstellt. Wir werden von den Familien und Beratern aus Frankreich aktiv angesprochen, da sie bei uns oft eine bessere Durchlässigkeit und ein höheres Entwicklungs-Potenzial der Talente sehen.“
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