Von diesem Tag werden sie in Freiburg noch oft erzählen, immer wieder. Montag, der 18. März 2024. Draußen regnet es und drinnen sitzt einer vor einem Bildschirm und sagt zu Menschen, die er nicht sieht, Sätze, die die nicht hören wollen. Oder so, auf Alemannisch: Drauße seicht’s und drinne schwätzt einer en Seich daher.
So ist es, wenn der Tag kein froher ist und die Botschaft eine falsche. Christian Streich, der Fußballtrainer des SC Freiburg und in dieser Funktion gleichzeitig Botschafter des alemannischen Dialekts, hat an diesem 18. März 2024 per Videobotschaft erklärt, dass er seinen Job beim Sport-Club im Sommer nicht mehr weiterführen werde. Ausgelaugt fühle er sich und der Zeitpunkt für den Schlussstreich sei der richtige.
Jeder bedauert den Abgang des Kulttrainers
Da hat der Himmel natürlich seine Schleusen geöffnet und alle Fans des Sport-Clubs sind ein bisschen, ein bisschen mehr oder sehr, sehr traurig. Allerdings nicht nur die SC-Fans. Der deutsche Fußball bedauert den Abgang von Christian Streich. Und gar scheint das gesamte Land angefasst, aus allen gesellschaftlichen Richtungen rauschen Stellungnahmen durch die Medienwelt. Überall heißt’s schade, wo der Mann doch Kult sei. „E Kültle“, korrigiert Streich, doch eines ist klar: Es hört da nicht der Fußballtrainer Streich auf, sondern mit ihm tritt auch der Mann ab, den sein Trainerkollege Martin Schmidt „das Gewissen der Liga“ genannt hat. Der Mann, der sich nie gescheut hat, der Politik den Spiegel vors Gesicht zu halten. Der Mann, der Alltagsrassismus geißelt und vor einem spürbaren politischen Rechtsruck in Europa warnt. Der Mann, dessen Stimme immer gezählt hat und landauf, landab geschätzt wird für sein unverstelltes Auftreten. Und für seine Charaktereigenschaften, die Fritz Keller, erst als Zweiter, dann als Erster Vorsitzender des SC Freiburg langjähriger Wegbegleiter, so beschreibt: „Immer geradeaus, knochentrocken und unverstellt.“
Für Christian Streich selbst ist es keine Besonderheit, den Mund aufzumachen. „So bin ich im Elternhaus aufgezogen worden“, sagt er. Und wenn ihn gerade die Zunahme rechtspopulistischer Strömungen umtreibt und in Deutschland besonders die Entwicklung der AfD, dann verweist Streich auf sein Geschichtsstudium mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert und erklärt in der Badischen Zeitung: „Ich habe gelernt, wie totalitäre Systeme entstehen und wie Menschen auch durch Propaganda instrumentalisiert werden.“
Streich will keine Spiele im Stadion mehr anschauen
Sagen, was ist, sagen, was nicht sein darf – so wird man die Stimme des aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit erst mal entschwundenen Christian Streich immer wieder hören. Doch wie sieht der Alltag aus in einem Leben ohne Fußball? Die Begehrlichkeiten werden groß bleiben. Zwar sagt Streich, er werde sich „anfangs keine Spiele im Stadion anschauen“, aber wenn schon der Fußball keine dominierende Rolle mehr einnehmen soll, dann sind da immer noch die Anfragen aus anderen Lebensbereichen. Vielleicht eine Bücherlesung mit Diskussion, weil der Herr Streich ja eine echte Leseratte ist und 2017 als „Bücherfreund“ ausgezeichnet wurde? Oder ein vergnüglicher Fasnachtsabend, weil der Herr Streich 2019 die „Goldene Narrenschelle“ der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte verliehen bekam? Eine Podiumsdiskussion zum Thema Geschichte?
Streich verweigert die Aussage zu konkreten Plänen, weil er gar nicht wisse, was werde. „Fußball ist meine große Liebe und hat meinem Leben eine Struktur gegeben“, erklärt er, und jetzt habe er keine Struktur mehr. Davor ist einer Person offenbar ein wenig bange, wenn man Streichs Worte interpretiert, die er unlängst im ZDF-Sportstudio sagte: „Meine Frau hätte es gerne gesehen, wenn ich den Job noch etwas weitergemacht hätte.“ Nicht dass er zu Hause zum Tyrannen wird und etwa strukturlos aus Rabattgründen Senf bestellt in großen Mengen wie der in den Vorruhestand beförderte Herr Lohse in Loriots „Pappa ante portas“.
Streich will sich Deutschland ansehen
Er habe ein paar Ideen, aber ob daraus etwas Zukunftsfähiges entsteht, weiß der 58-Jährige nicht. Reisen möchte er, vor allem Deutschland sehen. „Das Land ist schön und ich habe noch nicht vieles gesehen von Deutschland.“ Ob er das tun wird? Wenn ja, dann vielleicht in kurzen Häppchen, weil die Familie doch nicht immer dabei sein kann. Und der Herr Streich ist eben ein Familienmensch. Vielleicht hat er deshalb nie ein Angebot von anderswo angenommen. Die gab es natürlich. „Alles andere wäre ja nicht normal gewesen“, sagt Streich und ergänzt, „dass ich schon auch eitel bin, das gebe ich zu.“ Aber anderswo wäre es nie so gewesen wie in Freiburg. Ein Leben mit bedingungslosem Rückhalt im Verein, mit Freunden in der Nähe, mit denen man „e Gläsle Wii trinke kann“. Mit der Familie, die man morgens mit dem Rädle verlässt, aber später zum Abendessen wieder trifft.
29 Jahre lang beim SC Freiburg
29 Jahre beim SC Freiburg! Die Fans haben nicht nur bei seinem letzten Heimspiel am vergangenen Samstag gegen Heidenheim gesungen: „Christian Streich, du bist der beste Mann“. Schön sei das, hat der Geschmeichelte zugegeben, aber geweint hat er nicht, obwohl viele Kameramänner darauf spekuliert hatten. „Ich hab’s bis jetzt ganz gut im Griff“, ließ Streich wissen, aber vielleicht passiert es ja am Samstag in Berlin. Nach dem Abpfiff des Spiels bei Union könnten schon Tränen rollen, aber wohl nur dann, wenn der Sport-Club den notwendigen Punkt für die erneute Teilnahme am europäischen Geschäft erreicht hat. Das ist das erklärte Ziel. Wenn es schiefgeht, wird Christian Streich zum Abschied von der Freiburger Fußballbühne eher das wiederholen, was er angesichts von bereits vergebenen vier Matchbällen (1:1 Mainz, 1:2 Wolfsburg, 0:0 Köln und 1:1 Heidenheim) gesagt hat: „Es kotzt mich an.“ Oder auf Alemannisch, das Christian Streich übrigens immer deshalb gepflegt hat, „weil es schön ist und es vor allem zu lange gedauert hätte, bis ich meine Gedanken in Hochdeutsch übersetzt und ausgesprochen hätte“.
Auf Alemannisch also im Falle des Misserfolgs in Berlin: „Schissdreck.“