Herr Matthäus, Sie sind nicht nur TV-Experte, sondern auch Investor. Mit zwei Geschäftspartnern haben Sie vergangenes Jahr den ghanaischen Fußballverein Accra Lions gekauft. Wie läuft es seither?
Matthäus: Wir sind sehr zufrieden. Es geht uns vor allem um die Entwicklung der Spieler. Wir haben nicht das Geld, um Meister zu werden, aber viele junge Talente im Kader und haben das Projekt ein wenig im Stil von Red Bull Salzburg aufgezogen: Es gibt eine Akademie und eine erste Mannschaft. Vor Kurzem war ein Spieler beim FC Chelsea im Probetraining, das ist ein großer Erfolg für uns.
Der Einstieg eines Investoren in die DFL hat große Wellen geschlagen, nach den Protesten der Fans sagte die DFL das Projekt ab. Ist das besser so?
Matthäus: Besser würde ich nicht sagen. Denn im Endeffekt ist es eine Niederlage für den modernen Fußball. Aber viele Vereine haben sich dem Druck der Fankurve gebeugt.
Der FC Bayern steht vor seiner ersten titellosen Saison seit zwölf Jahren…
Matthäus: Dass es mal ein Jahr ohne Titel gibt – das ist auch schon anderen großen Vereinen passiert. Was mich stört: Der FC Bayern präsentiert sich nicht mehr als Einheit. Die Mannschaft lebt nicht. Und das Gefühl, die Kultur des Vereins ist verloren gegangen. Und das ist viel schlimmer als eine Saison ohne Titel. In den letzten Jahren sind viele Spieler geholt worden, die in ihren vorherigen Klubs funktioniert haben. Aber teilweise waren das doch mittelmäßige Spieler, Ergänzungsspieler. Wenn ich mir alleine die Einkaufspolitik der letzten Jahre ansehe: Wie viel Geld ausgegeben wurde! In der Innenverteidigung kamen Hernández, Pavard, Kim, Upamecano und de Ligt – die haben zusammen ja fast 300 Millionen gekostet und keiner hat gezeigt, dass er die Abwehr zusammenhalten kann. Oder die Rechtsverteidigerposition: Da hast du Mazraoui, Boey und noch Sarr – aber keiner dieser drei Spieler stellt doch die Weltklasse dar, die der FC Bayern braucht. Zudem wurde zu wenig auf das Gesamtpaket geschaut, auf die Mentalität des Spielers. Es hat nicht den Anschein, dass die neuen Spieler diese Bayern-DNA verinnerlicht haben. Dazu kommt: Die etablierten Führungsspieler wie Kimmich, Goretzka, Neuer und Müller hatten zuletzt allesamt Probleme.
Was sagen Sie zum Aus von Thomas Tuchel?
Matthäus: Ich glaube, dass es eine logische Konsequenz ist aufgrund der Ergebnisse der letzten zwölf Monate. Sowohl die Atmosphäre als auch die Ergebnisse haben nie gestimmt. Und jetzt hat man gemerkt: Das mit Tuchel und dem FC Bayern war ein einziges Missverständnis. Tuchel ist nie beim FC Bayern angekommen – nicht bei den Fans, nicht bei den Spielern, teilweise nicht mit den Resultaten. Daran hat auch der Sieg gegen Leipzig nichts geändert.
Woran liegt es, dass der FC Bayern in der Krise steckt?
Matthäus: In vielen Teilen des Vereins fehlt das, was den FC Bayern auch immer ausgemacht hat: Führungskräfte, die auch aus dem Fußball kommen. Es braucht hier Leute, die nicht nur auf Bilanzen gucken, sondern sich auch im Sport auskennen. Bayern München ist keine Bank! Wenn ich sehe, wer da in der Führung sitzt: Das sind alles Leute, die erfolgreich gearbeitet haben – aber die nicht aus dem Fußball kommen. Die lieben alle den Fußball, aber sie sind eben nicht Hoeneß, Rummenigge oder Beckenbauer. Wo sind die Leute beim FC Bayern, die das Geschäft auf dem Rasen kennen, den Stallgeruch haben? Auch Leverkusen setzt im Management doch mit Simon Rolfes auf eine Figur, die als Kapitän Vereinsgeschichte geschrieben hat. Du blickst als Spieler anders auf solche Personen, das ist einfach so. Und sie wissen, wie wichtig es ist, dass alle in dieselbe Richtung wollen.
Warum ist dieser Stallgeruch der Vereinsführung denn so wichtig?
Matthäus: Nach dem Spiel bei Lazio Rom habe ich ein Foto des versammelten Vorstands gesehen: Es war ein Tisch voll mit erfolgreichen Leuten, aber keiner von ihnen hat Fußball gespielt. Es sind reine Fußballfans. Aber Vereine leben von Geschichten und bekannten Gesichtern. Beim Vorstand kommen Jan-Christian Dreesen, Michael Diederich, Andreas Jung aus dem Finanzsektor, Präsident Herbert Hainer aus der Wirtschaft. Wenn einer aus dieser Riege aufsteht und eine Rede hält: Glauben Sie, dass der die Spieler erreicht? Wer steht dann da auf? Ich weiß, wie es war, wenn Franz Beckenbauer nach einer Niederlage von der Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft losgepoltert hat! Da bist du selbst als Nationalspieler strammgestanden. Und das meine ich: Das ist die Kraft von FC Bayern München! Jetzt soll alles fein und nett sein – aber Bayern München ist nicht fein und nett, sondern da poltert es auch mal, da wird es auch mal laut, das gehört dazu.
Thomas Tuchel fühlt sich immer wieder unfair behandelt von Ihnen und Dietmar Hamann. Sind Sie nicht manchmal verwundert, dass er immer wieder so angefasst auf Ihre Kritik reagiert?
Matthäus: Ich habe Thomas Tuchel für nichts attackiert, was er nicht selbst gesagt hat. Er hat ja selbst betont, dass die Mannschaft nicht performt, dass er unzufrieden ist mit der Leistung. Was mich wirklich gewundert hat, ist, dass Thomas immer wieder eigene Geschichten angeschoben hat. Das mag seiner Ehrlichkeit geschuldet sein. Aber wenn er sagt, dass er sich manche Niederlagen nicht erklären konnte, dass die Mannschaft schlecht spielt – dann muss man ihm auch vorhalten dürfen, dass es auch an ihm liegen kann. Weil er eine Dreierkette spielt, mit der das Team nicht zurechtkommt. Und wenn dann Kritik an dir als Trainer kommt – da musst du drüberstehen.
Jetzt ist das Ende von Tuchel besiegelt – muss Bayern jetzt Xabi holen?
Matthäus: Wenn Xabi Alonso zu haben ist, dann hat man die Pflicht, ihn zum FC Bayern zu holen. Aber bei ihm gibt es das Problem, dass er nicht nur beim FC Bayern, sondern auch beim FC Liverpool ganz oben auf der Liste steht. Und dann sagt er sich vielleicht auch: Warum sollte ich jetzt nach München oder nach Liverpool gehen, wenn ich bei Bayer Leverkusen eine Erfolgsgeschichte weiterschreiben kann? Dann könnte er immer noch zu Real Madrid gehen – und da will er unbedingt hin. Real ist sein ganz großer Traum, das darf man nicht vergessen.
Die EM 2024 steht vor der Tür – und zuletzt sorgten die Auftritte der Nationalmannschaft nicht gerade für Euphorie. Was muss sich ändern, damit es eine gute EM wird?
Matthäus: Es ist schon etwas Negatives, dass der FC Bayern nicht funktioniert. Denn immer, wenn der FC Bayern performt, hat die Nationalmannschaft Titel geholt. Julian Nagelsmann hat eine ähnliche Aufgabe wie Thomas Tuchel vor sich: Er muss die ersten 17 Spieler finden, denen er vertraut, das sind die wichtigsten. Denen musst du voll Vertrauen schenken und die müssen wissen, dass der Trainer hinter ihnen steht.
Das heißt: Die Zeit der Experimente muss endgültig vorbei sein?
Matthäus: Die hätte schon bei Hansi Flick vorbei sein müssen, das war sein größter Fehler. Man kennt die Spieler doch im Grunde in- und auswendig, aus den Ligen und der Nationalelf.
Wie bewerten Sie die Rückkehr von Toni Kroos?
Matthäus: Ich finde, dass Toni Kroos das ganz alleine zu entscheiden hat. Er hat es getan aufgrund des Vertrauens des Bundestrainers und des Vertrauens zu sich selbst. Er spielt ja auch immer noch überragend. Kroos steht für große Erfahrung, Selbstvertrauen und Persönlichkeit. Genau das könnte der Mannschaft bei der EM helfen. Er hat sich auch seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft damals gut überlegt nach zwei enttäuschenden Turnieren in Folge, das Ende beim DFB dürfte ihm aber nicht gefallen haben. Jetzt hat er die Chance, diese Karriere mit einem guten Ergebnis abzuschließen.
Glauben Sie, dass Julian Nagelsmann über den Sommer hinaus Bundestrainer bleibt?
Matthäus: Nein. Ich glaube, dass Julian bei dieser Europameisterschaft alles rausholt aus der Mannschaft, was rauszuholen ist. Und dann wird er mit seinen 36 Jahren wieder Lust haben, voll ins Tagesgeschäft einzusteigen und nicht nur alle zwei Monate zwei Länderspiele zu haben.
Und wer sollte dann auf Nagelsmann folgen?
Matthäus: Ich gehe davon aus, dass Jürgen Klopp für viele der Wunschkandidat wäre. Und dafür sollte man eine Lösung finden. Er will ja Pause machen nach dieser anstrengenden Zeit in Liverpool. Aber ich glaube: Aus einem Jahr kann man auch sieben Monate Pause machen. Dann könnte Klopp zum 1. Januar 2025 einsteigen und man greift bis dahin auf die Leute zurück, die auch Rudi Völler unterstützt haben: Sandro Wagner und Hannes Wolf zum Beispiel. Im Grunde ist es doch das, was sich alle wünschen – und dann sollte man das auch möglich machen.
Sie haben Ihre Trainerkarriere beendet. Aber würden Sie diesen Entschluss rückgängig machen, wenn das richtige Angebot käme – zum Beispiel eines vom DFB?
Matthäus: Nein, absolut nicht. Ich habe meinen Job, ich habe mein Leben und meine Freizeit und ich bin zufrieden damit.
Und Sie haben einen zehnjährigen Sohn, um den Sie sich kümmern können.
Matthäus: Ja, das genieße ich sehr. Ich bin ja nach wie vor am Fußball dran, aber ich kann meine Zeit nun besser selbst bestimmen.
Sie haben vier Kinder, sind zum fünften Mal verheiratet, bemühen sich aber um einen guten Kontakt zu allen Kindern. Ihr jüngster Sohn Milan ist zehn Jahre alt. Wie aufwendig ist das Leben in einer Patchwork-Familie?
Matthäus: Gar nicht. Wir wohnen in München, ich habe zwei Töchter, die in der Nähe wohnen – also in München und Salzburg – und einen Sohn, der in der Schweiz lebt. Der Kontakt ist da, und jeder hält es so, wie er will. Meine anderen drei Kinder sind allesamt schon über 30 und erwachsen, da muss man sich auch nicht mehr jede Woche sehen. Aber wir haben regelmäßig Kontakt.
Ist das Familienleben für Sie nun leichter als früher?
Matthäus: Es ist anders als früher. Und jeder versteht es jetzt ein bisschen besser. Auch aufgrund der Erfahrungen, die man vielleicht selbst gesammelt hat, versteht man gewisse Situationen deutlicher.
Hat eigentlich eines Ihrer Kinder ein Talent für den Fußball mitgebracht?
Matthaus: Nur mein Jüngster! Milan ist auf dem Weg zum eisenharten Verteidiger und ist wirklich talentiert. Aber das wird erst in zehn Jahren zum Tragen kommen.
In Deutschland war Ihre Wahrnehmung lange Zeit zwiegespalten, Sie wurden teilweise auf Versprecher wie "Wäre, wäre Fahrradkette" reduziert. Können Sie darüber schmunzeln?
Matthäus: Da schmunzel ich drüber. Es war ja auch nicht mein einziger Versprecher. Bei manchen Spielernamen habe ich mir ja auch schwergetan. Wenn dann Häme kommt: Mein Gott, dann ist es so. Vor 20, 30 Jahren habe ich mich da schon drüber geärgert, aber das gehört zu Live-Berichten dazu. So ist das Leben.