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Fußball: Jetzt nur nicht durchdrehen: Heidenheims Traum von der Bundesliga

Der Traum von der Bundesliga: Heidenheim mit Torjäger Tim Kleindienst (links) kann am Sonntag den Coup perfekt machen.
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Jetzt nur nicht durchdrehen: Heidenheims Traum von der Bundesliga

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    Jetzt wird erst mal angestoßen im Albstüble. Sechs Bier hat der Mann im Trikot des 1. FC Heidenheim für sich und seine Freunde mitgebracht. Und die Rechnung geht auf ihn. „Aufstiegsbier! Ist ja schließlich das letzte Mal, dass wir hier als Zweitligist hocken!“, erläutert er seine Spendierfreudigkeit und erntet Applaus von seinen Freunden. Die Ostalb gilt als wohlhabende Region, aber gegen Freibier hat auch hier niemand etwas. Das Albstüble ist Treffpunkt für Fans des Zweitligisten, liegt direkt am Stadion und ist deshalb fest in der Hand der FCH-Fans. Es ist Samstagmittag um kurz vor 12 Uhr. In einer Stunde wird das letzte Heimspiel der Heidenheimer in dieser Saison angepfiffen. Und ja, idealerweise wird es das letzte Mal für mindestens ein Jahr sein, dass der Klub hier als Zweitligist antritt. In der kommenden Saison soll es nicht mehr gegen Sandhausen, Kiel oder Magdeburg, sondern gegen Bayern, Dortmund und Frankfurt gehen. Bundesliga, lautet das Ziel.

    Die Sache mit dem Aufstieg soll am Ende dieses Tages nicht klappen, noch nicht. Zwar wird Heidenheim sein Spiel gegen Sandhausen mit 1:0 gewinnen und den Gegner damit in die 3. Liga schicken. Weil am Abend aber auch der Hamburger SV gegen Fürth siegt, ist die Entscheidung verschoben und wird am kommenden Sonntag nachgeholt.

    Vorstandsvorsitzender Holger Sanwald findet die Situation bizarr

    Heidenheim an der Brenz, knapp 50.000 Einwohner, 33 Kilometer nördlich von Ulm gelegen, wird dann in der Liga der ganz Großen mitspielen, erste Liga. Ist das verrückt? Ja, sehr wahrscheinlich schon. Findet selbst derjenige, der vor knapp 30 Jahren den Anstoß dazu gegeben hat: Holger Sanwald. Der 56-Jährige ist Vorstandsvorsitzender des Vereins und muss lachen, wenn man ihn zu der aktuellen Situation befragt: „So richtig real kommt mir das nicht vor. Allein dass der große HSV jetzt unser größter Konkurrent ist – das ist doch irre.“ Sanwald muss diese Situation fast schon als unwirklich empfinden. Schließlich kennt er den Verein noch, als der kurz vor dem Ende stand. Im Jahr 1995 wurde der damals 27-Jährige, der kurz zuvor an der Uni Augsburg sein BWL-Studium beendet hatte, zum Abteilungsleiter des damaligen Landesligisten gewählt. Für ihn, der in Giengen geboren und in Heidenheim aufgewachsen ist, sprach damals nicht nur das abgeschlossene Studium.

    Holger Sanwald, Vorstandsvorsitzender des Fußball-Zweitligisten 1. FC Heidenheim.
    Holger Sanwald, Vorstandsvorsitzender des Fußball-Zweitligisten 1. FC Heidenheim. Foto: Daniel Karmann, dpa (Archivbild)

    Sanwald ist ein Menschenfänger, einer, dem man unwillkürlich irgendwann das Du anbieten möchte – und einer, der mit Feuereifer dabei ist. All diese Eigenschaften waren dringend gefragt bei seinem Start. Denn der Verein, der damals noch Heidenheimer Sportbund hieß, stand vor dem Aus. Und Sanwald, der ehemals für den Klub auf Torejagd ging, wollte das verhindern. „Ich wollte nicht, dass es mit dem Heidenheimer Fußball zu Ende geht.“ Tat es auch nicht. Vielmehr geht es seither Schritt für Schritt bergauf. Sanwald besorgte Sponsoren, holte Spieler und Trainer – und nach zehn Jahren war das Ziel erreicht: Oberliga.

    Sanwald setzte sich mit ein paar Mitstreitern das geheim gehaltene neue Ziel: 2. Liga sollte es werden. Mit der Welt der Bundesliga war er in den 90er Jahren in Verbindung gekommen. Michael und Andreas Zeyer, die damals beim SC Freiburg spielten und auch aus Heidenheim stammen, sind Freunde von ihm. Sanwald reiste ihnen zu den Spielen hinterher – dass er selbst mal Teil dieses Zirkus sein könnte, war unvorstellbar.

    Das Schloss Hellenstein steht auf dem Schlossberg und thront über der Stadt Heidenheim.
    Das Schloss Hellenstein steht auf dem Schlossberg und thront über der Stadt Heidenheim. Foto: Tom Weller, dpa

    Am Spieltag wirkt vieles so romantisch, dass man es nur schwer mit der Bundesliga zusammenbringen kann. Die Auffahrt zum Schlossberg, wo vielleicht bald Deutschland höchstes Bundesliga-Stadion steht (555 Meter über NN), ist mit blau-weiß-roten Bändern verziert. Vor Spielbeginn verliest der Stadionsprecher Nachrichten von Fans und Verein vor: Eine Gymnastikgruppe gratuliert einem ihrer Mitglieder zum 80. Geburtstag, im Service werden noch Mitarbeiter für den Ausschank gesucht, in der Halbzeitpause gibt es einen 50-Euro-Gutschein für den lokalen Supermarkt zu gewinnen. Das wirkt so bodenständig, so herzlich – aber kann dieses Heidenheim auch Bundesliga? Sanwald sagt dazu: „Natürlich ist nur die Stadt Heidenheim kein prädestinierter Bundesligastandort, aber wenn man unser gesamtes Einzugsgebiet zwischen Stuttgart und Augsburg betrachtet, dann leben wir in einer wirtschaftlich starken, fleißigen Region mit vielen erfolgreichen Unternehmen. Wir erkennen nur insgesamt oft nicht diese Kraft und machen uns meistens kleiner, als wir sind.“

    Tatsächlich wirkt dieses Märchen vom Dorfverein, der nach ganz oben strebt, immer weniger mysteriös, wenn man genau hinsieht: Über 500 Sponsoren hat der Verein mittlerweile, darunter die großen Geldgeber wie die Beratungsfirma MHP aus Ludwigsburg oder die in Heidenheim ansässigen Unternehmen wie die Hartmann-Gruppe oder den Technologiekonzern Voith. Das Stadion, die 15.000 Plätze fassende Voith-Arena, gehört dem Verein. Es gibt Pläne für eine Erweiterung, eine Machbarkeitsstudie, bald soll auch Baurecht für den Ausbau bestehen. Mit einem Gesamtbudget von 40 Millionen Euro liegt der FCH im finanziellen Mittelfeld der 2. Liga, lässt aber jedes Jahr viele besser alimentierte Vereine hinter sich – aktuell zum Beispiel den HSV.

    Heidenheims Trainer Frank Schmidt will mit dem Klub in die Bundesliga.
    Heidenheims Trainer Frank Schmidt will mit dem Klub in die Bundesliga. Foto: Stefan Puchner, dpa

    Frank Schmidt ist seit 16 Jahren Trainer des FC Heidenheim

    Konstant geht es auch im sportlichen Bereich zu: Frank Schmidt ist seit 16 Jahren Trainer des FCH und damit dienstältester Übungsleiter im Profifußball, noch vor Freiburgs Christian Streich. Der 49-Jährige wurde von Sanwald noch als Spieler zu Verbandsligazeiten verpflichtet. Schmidt ist ebenfalls ein Heidenheimer Original. Das Realität gewordene Klischee will es, dass er sogar im Krankenhaus neben dem Stadion zur Welt kam. Angebote von anderen Vereinen hat es immer wieder gegeben, und immer wieder hat Schmidt Ja zu seinem FCH gesagt. Warum eigentlich? Schmidt selbst erklärt das so: „Ich brauche auch keinen anderen Verein, um mich neu zu motivieren. Vielleicht macht ein Vergleich mit meinem Privatleben meine Einstellung deutlich: Meine erste Freundin ist auch meine jetzige Frau, mit der ich seit Jahrzehnten glücklich verheiratet bin.“

    Dass der Verein jedes Jahr die besten Spieler abgeben und sich neue suchen muss – eigentlich auch halb so wild. Denn, so Sanwald: „Ich weiß schon sehr genau, welcher Spielertyp bei Frank Schmidt funktioniert und welcher nicht.“ Tatsächlich hat Heidenheim eine unglaubliche Trefferquote: Jan-Niklas Beste, der gegen Sandhausen das einzige Tor erzielte, wurde vor der Saison aus Regensburg verpflichtet. Tim Kleindienst, der bereits zum zweiten Mal in die Ostalb gewechselt ist, wird sich die Torjägerkanone der 2. Liga holen.

    Was das Heidenheimer Erfolgsmodell ist – dazu äußert sich Frank Schmidt kurz und knapp: „Arbeit und unglaublicher Zusammenhalt.“ Wie groß der Lebenstraum ist, der sich mit einem Bundesliga-Aufstieg für ihn erfüllen würde? Der Trainer lächelt: „Das ist ein Konjunktiv, deshalb werde ich die Frage nicht beantworten.“ Schmidt weiß sehr wohl aber, dass Heidenheim längst zu einem Klub für eine ganze Region geworden ist. Der Verein hat nicht nur Sponsoren der ganzen Region, sondern betreibt auch Partnerschaften mit 200 kleinen Vereinen im Umkreis. Im Rahmen derer gibt der Greenkeeper des Klubs Tipps für einen besseren Rasen, Schmidt erklärt sein Training, Sanwald zeigt, wie man Sponsoren gewinnt. Es gibt auch Spielbälle, denn, so Sanwald: „Ich weiß noch aus eigener Erfahrung aus meinen Anfängen, wie es ist, ehrenamtlich eine Fußballabteilung zu leiten und kein Geld für neue Bälle zu haben. Wir wollen ein sportlicher Leuchtturm in unserer Region sein.“

    Dieser Anspruch macht sich am Spieltag bemerkbar, um die Voith-Arena stammen die Autokennzeichen nicht nur aus Heidenheim, sondern auch aus Ulm, Biberach, Günzburg, Dillingen, dem Landkreis Donau-Ries, Göppingen. Auch Heidenheims Bürgermeister Michael Salomo (SPD) drückt dem FCH die Daumen und sagt: „In den vergangenen Wochen hat der FCH die Euphorie und Freude unter den Fans immer weiter angefacht und neue Fans hinzugewonnen. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Stadt Heidenheim, sowohl was unsere Bekanntheit angeht, wie auch unser Image als aufstrebende große Kleinstadt mit einer gut zusammenspielenden Stadtgesellschaft. Der FCH wirkt damit als wichtiger Botschafter – ein Effekt, der sich mit dem Aufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga weiter verstärken wird. Darüber freue ich mich mit allen Menschen, die daran teilhaben in unserer schönen Stadt.“

    Ein Traum könnte wahr werden: Der 1. FC Heidenheim steht vor dem Aufstieg in die Fußball-Bundesliga.
    Ein Traum könnte wahr werden: Der 1. FC Heidenheim steht vor dem Aufstieg in die Fußball-Bundesliga. Foto: Stefan Puchner

    Und jetzt? Wird am Sonntag die „Lebenschance für unsere gesamte FCH-Familie“ (Sanwald) wahr? Frank Schmidt bleibt seinem Credo auch jetzt treu: Zwicken muss er sich nicht, träumen will er nicht, denn: „Wer träumt, kann so ein Spiel nicht gewinnen.“ Sein Musterschüler Tim Kleindienst gibt das Motto für die vielleicht letzte Woche vor dem Märchen vor: „Jetzt braucht niemand durchdrehen, wir machen wie gehabt weiter.“ Vielleicht ist am Sonntagabend ja ein kleines bisschen Zeit zum Durchdrehen da. Berechtigt wäre es ja durchaus.

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