Der Unterschied könnte größer nicht sein an diesem Freitagnachmittag auf der DFB-Pressebühne. Kai Havertz und Robin Gosens heißen die beiden Kicker, die sich die Pressestelle für die Fragerunde vor dem letzten Testspiel gegen Lettland (Montag, 20.45 Uhr, RTL) ausgesucht hat. Hier das Supertalent Havertz, das mit 19 Jahren sein erstes Länderspiel bestritt – dort Gosens, der mit 18 Jahren noch in der Landesliga auflief und nebenher an der Tankstelle arbeitete. Dass Gosens es in diesem Sommer in den Kader der Nationalmannschaft geschafft hat, mag er selbst kaum glauben: „Es ist für mich eine Riesenehre, dass ich dabei sein darf.“
Eine Ehre, die sich der Deutsch-Niederländer mit starken Leistungen erarbeitet hat: Mit seinem Klub Atalanta Bergamo ist er mittlerweile Stammgast in der Champions League, hatte einige Zeit sogar Chancen auf den italienischen Meistertitel. Gosens persönliche Bilanz liest sich so gut, dass manche Stürmer wohl neidisch werden: Elf Tore und sechs Vorlagen gelangen ihm in der italienischen Serie A. Wie im vergangenen Jahr ist er damit der offensivstärkste Defensivspieler in den vier europäischen Top-Ligen. Gosens, der in Bergamo in einer Fünferkette die linke Seite einnimmt, bezeichnet seine Rolle so: „Ich bin ein dynamischer Schienenspieler und schalte mich gerne nach vorne ein.“
Nationalspieler Robin Gosens ist bekannt für forsche Töne
Es ist einer wenigen Sätze, die auch von einem anderen Nationalspieler stammen könnten. Beim mehrheitlichen Rest von dem, was Gosens sagt, macht sich auf angenehme Weise bemerkbar, dass der Nationalspieler niemals in einem Nachwuchsleistungszentrum war und ihm kein Kommunikationstrainer die forschen Töne abgewöhnt hat. Gosens fordert im Pressegespräch schon mal, dass man sich im Mannschaftskreis „auf die Eier gehen“ oder sich sagen muss, „dass einer Sülze gespielt hat“.
Der 26-Jährige freut sich darüber, dass in Düsseldorf 1000 Zuschauer erlaubt sein werden: „Dass Zuschauer erlaubt sind, ist doch kein Druck – das ist beflügelnd.“ Er beweist, dass er nicht nur den Profisport im Blick hat: „Es freut mich auch generell. Weil es bedeutet, dass die Inzidenzen weiter sinken.“ Wie schwer die Corona-Pandemie wütete, bekam Gosens aus nächster Nähe in Bergamo, dem europäischen Zentrum der Pandemie, mit. In kaum einer anderen europäischen Stadt wütete das Virus so schlimm. Es waren Erinnerungen, die er niemals vergessen wird.
Dass die Infektionszahlen nun wieder nach unten gehen, habe noch eine andere Komponente für den selbst ernannten Dorfkicker: „Der Amateursport darf wohl bald wieder laufen. Das freut mich für meine Jungs, das ist eine geile Sache.“ Meine Jungs – das sind Gosens Kumpels in Bocholt und Rhede an der niederländischen Grenze, wo er seine komplette Jugendzeit verbrachte. Der Nationalmannschaft steht er immer noch staunend gegenüber – das wird wohl auch immer so bleiben. „Ich muss bis heute jeden Tag mehr tun als alle anderen, um Schritt halten zu können. Es ist für mich gigantisch, dass sich diese Arbeit nun auszahlt.“
Robin Gosens soll seine Qualitäten auch bei der EM zeigen
Wie wertvoll Gosens für die DFB-Auswahl sein kann, zeigt sich beim Test in Dänemark: Löw ließ Gosens im System mit drei Innenverteidigern die linke Seite beackern. Der machte im Bergamo-System das, was er auch bei Atalanta macht: die linke Seite beackern und sich permanent ins Offensivspiel miteinbringen. Das deutsche Tor fiel letztlich nach einer Hereingabe von Gosens. Kimmich brachte den Ball aufs Tor, Neuhaus traf im Nachsetzen. Auch selbst versuchte es Gosens mit einer frechen Abnahme aus spitzem Winkel.
Es sind Qualitäten, die Gosens auch bei der EM zeigen soll. Dass Löw gegen die starken Vorrundengegner Frankreich und Portugal erneut auf das System setzt, was Gosens aus seinem Verein kennt, gilt als relativ sicher – der Bundestrainer erhofft sich von einem zusätzlichen Innenverteidiger mehr Stabilität. Dass dafür ein Mittelfeldspieler geopfert werden muss, sollen die offensiven Außen ausgleichen. Hört sich sehr nach einem Gosens-Job an.
Ob der Profi nach der EM noch in Bergamo spielen wird, ist offen. Immer wieder wird mit seinem Abgang aus Bergamo zu einem größeren Klub spekuliert – nicht zuletzt deshalb, weil Ablösesummen für Spieler fest im Bergamo-Konzept eingeplant sind. Der entthronte Meister Juventus Turin soll sich mehrfach nach dem Deutschen erkundigt haben. Gosens macht keinen Hehl daraus, dass die Bundesliga sein Traum ist. Eine gute EM könnte bei diesem Wunsch helfen. Wie er mit Angeboten umgeht? Dazu eine typische Gosens-Antwort: „Ich lasse diese Sachen von meinem Dad regeln. Ich habe ihm aber gesagt: Lass mich während des Turniers in Ruhe. Dafür ist dieser Moment zu groß für mich.“
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