Joachim Löw wollte nun wirklich nicht in die Einöde südöstlich Moskaus. Watutinki. Klingt nach Badeort in der Südsee. Baden gingen sie ja dann tatsächlich auch, die deutschen Fußballer, schieden nach der Vorrunde der WM 2018 in Russland aus und noch heute hält sich nicht nur bei Löw die Meinung, dass der Wohnkomplex vor Moskau daran eine Teilschuld trägt. Der damalige Bundestrainer ist zwar ein starker Befürworter der Abgeschiedenheit, zu viele Nebensächlichkeiten sollen bitte nicht des Feingeistes Kreise stören, aber ein wenig angemesseneres Interieur und im besten Fall ein Stück Strand sollten es dann aber bitte doch sein. So campobahia-mäßig.
War natürlich auch Löw klar, dass es mit einem sommerlichen Quartier an der Atlantikküste in Russland schwierig werden würde, aber im Jahr davor hatte ihm Oliver Bierhoff schließlich auch den Wunsch nach Wärme und Meer erfüllt und für die Deutschen während des Confed-Cups eine Wohnstätte am Schwarzen Meer organisiert. Das Löw'sche Nachwuchsteam holte überraschend den Titel und der Bundestrainer war fortan Freund der Küstenstadt. Bierhoff aber wollte die WM 2018 partout "vom Ende weg planen" und in den letzten Turnierwochen bis hin zum Finale lediglich kurze Wege absolvieren. Das Ende kam früher. Das Studieren des Turnierplans hatte sich nicht als weitsichtig, sondern als reichlich überambitioniert gezeigt.
Die Frage nach dem Mannschaftsquartier ist immer eine schwierige
Die Wahl des Quartiers wirkt sich auf die Stimmung im Team aus. Genauso wie sich der Erfolg rückwirkend auf die Bewertung des Quartiers auswirkt. In Brasilien beispielsweise tröpfelte aus mancher Dusche weniger Wasser als es für eine angemessene Körperhygiene zuträglich wäre. Als Philipp Lahm und Co. in ihre Bungalows einzogen, verließen die Handwerker durch die Hintertür das Gelände. Aber, hach, der Erfolg. Verwandelt schreiende Urwaldtiere in Idylle und defekte sanitäre Anlagen in teambuildenden Jugendherbergscharme.
Als die deutsche Nationalmannschaft letztmals ein Heimturnier bestritt, residierte die Mannschaft im Berliner Schlosshotel Grunewald, Ku'damm umme Ecke. Der Erneuerer Jürgen Klinsmann führte die Mannschaft als Trainer an und so sehr der Schwabe seine Ruhe haben wollte, wenn er mal gerade ein wenig (oder ein wenig mehr) eine Verschnaufpause vom zehrenden Job des Bundestrainers benötigte und gen USA abflog, genauso sehr war ihm daran gelegen, dass er und sein Team während der WM 2006 die Stimmung in Deutschland aufsogen. Generell war bei Klinsmann viel auf Stimmung, Wille, Durchdiewandknallen ausgelegt. Um die taktischen Feinheiten kümmerte sich sein Adjutant Löw.
Jenes Schlosshotel jedenfalls brachte die Mannschaft in Kontakt mit Schland, Autofähnchen, schwarzrotgoldenen Seitenspiegelkondomen, Hawaiiketten tragenden Sekretärinnen. All diese Ausprägungen, die unter dem Sammelbegriff "Sommermärchen" Eingang in den kollektiven Sprachgebrauch gefunden haben. Die deutsche Mannschaft stand im Zentrum der Begeisterung und da befand sie sich auch geografisch. 18 Jahre später ist die Begeisterung erwachsen geworden. Sie lässt sich nicht mehr so leicht provozieren.
Deutschland trägt nun erneut ein Heimturnier aus. Diesmal ist nicht die Welt zu Gast bei Freunden, sondern Europa. Aber sind wir denn nun wirklich alle befreundet? Auch mit den Rechtspopulisten in Ungarn? Den Erdogan-Türken? 2006 gastierten die Saudis im hessischen Bad Nauheim. Mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung hatten sie es schon damals nicht so wirklich, wurden allerdings schlicht als "Wüstensöhne" aufs Herzlichste willkommen geheißen. Realitätsfluchten waren auch schon mal einfacher.
Diesmal bedarf es einer Marketingagentur. Wo 2006 noch die Sportfreunde im freudvollen Rhythmus Jahreszahlen aneinanderschrammelten, packt Adidas Major Tom aus und lässt ihn im Hintergrund der Lilalaune-Trikot-Präsentationen völlig losgelöst abheben. Scho au gut g'macht. Die Clips gehen unter anderem der Frage nach, was typisch deutsch sei. Autos, Elfmeter, die ewigen Stereotypen. Daran hat sich in den vergangenen 18 Jahren nichts geändert. Auch 2006 wies lange nichts auf ein Sommermärchen hin. Dann knipste Herr Kaiser vier Wochen die Sonne an und ein Land gefiel sich in unbekannter Ausgelassenheit. Lässt sich nicht reproduzieren. Aber vielleicht ja doch wiederholen.
Viel wichtiger aber als Wetter, Trikots, Major Tom oder die Wahl des Quartiers ist auf'm Platz. Singing in the rain? Ginge schon auch. Aber nur nach Erfolgen. Mehr Tugenden, weniger Tamtam. Julian Nagelsmann versucht sich daran, die Zeit ein wenig zurückzudrehen. Wo Joachim Löw in seiner Spätphase und Hansi Flick in seiner kurzen Zeit als Nationaltrainer den Ansatz verfolgten, möglichst die elf besten Fußballer auf dem Feld zusammenzuführen, beschreitet der junge Nagelsmann einen alten Pfad. Kollektivgedanke. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Oder: Vergnügen durch Arbeit. Da findet ein kerniger Bewirtschafter des Feldes wie Robert Andrich eben eher einen Platz in der Elf als der filigrane Julian Brandt.
Der Bundestrainer verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Klinsmann 2006 oder auch Löw beim WM-Sieg 2014. Beide Male hatten die Trainer die Rollen im Team klar verteilt. In der sehenswerten ARD-Dokumentation "Wir Weltmeister. Abenteuer Fußball-WM 2014" weist Thomas Müller darauf hin, dass es vor allem an jener Aufteilung bei den vergangenen Turnieren gefehlt habe. Sowohl bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 als auch bei der EM 2021 habe die klare Aufteilung zwischen Stammspielern und ergänzendem Personal nicht gestimmt. Nach den verlorenen Spielen gegen die Türkei und Österreich im Spätherbst 2023 hat Nagelsmann eine krasse Änderung in seiner Ausrichtung vorgenommen. Jeder Akteur kennt seine Position in der Hierarchie, das Spiel soll simpler gehalten werden und im Zweifelsfall schlägt Funktion die Form. Mats Hummels und Leon Goretzka gefällt das nicht.
Seit dem gewonnenen WM-Finale 2014 konnte es, gemessen an den Erfolgen, im deutschen Fußball nur abwärts gehen. Mit dem Adler auf der Brust legte das Team allerdings einen nicht erwarteten Sturzflug hin. Auch, weil man sich von den eigenen Prinzipien verabschiedete. Weil das Spiel immer kleinteiliger gestaltet wurde, viele Anleihen im spanischen Fußball genommen wurden – und dabei vernachlässigt wurde, dass der Fußball auf Top-Niveau in stilistischen Wellen verläuft. Während Engländer, Italiener, Franzosen und Argentinier – bei all den herausragenden Einzelkönnern – einen pragmatischen Ansatz verfolgten, verfielen die Deutschen auf das Dogma des attraktiven (und reichlich komplizierten) Kurzpassspiels. Dominanz ohne Varianz. Ging schief.
Sommermärchen 2.0 bei der Fußball-EM 2024? Nichts Genaues weiß man nicht
Nagelsmann versuchte im Trainingslager in Blankenhain sein Team auf die Herausforderungen der EM vorzubereiten. Sein Quartier schlägt die Mannschaft während des Turniers in Herzogenaurach auf. Ein Camp. Statt brasilianischem Dschungel fränkische Störche. Kein Hauptstadtleben wie im Berliner Schlosshotel, dafür entspannte Atmosphäre. Ob es zu einem weiteren Sommermärchen kommt, ist nicht von der Wahl des Quartiers abhängig. Berlin oder Herzogenaurach – Hauptsache Erfolge. Der Rest lässt sich nur bedingt beeinflussen.
Franz Beckenbauer vermutete, dass der liebe Gott jedes Kind liebt. Eines seiner liebsten hat er im Januar zu sich geholt. Möglicherweise macht der Kaiser seinen Einfluss geltend und lässt die Sonne dauerhaft einschalten. Dann werden sie möglicherweise entmottet: die Hawaiiketten, Fahnen und Seitenspiegelkondome. Und wenn nicht, ist es eben doch nur Fußball. Völlig losgelöst. Auch schön.
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