Viele Gründe sprechen dafür, dass sich das Sommermärchen nicht wiederholt. Zum einen: Weil sich Märchen einfach nicht wiederholen. Schneewittchen 2.0 findet sich in keiner Sammlung der Gebrüder Grimm. Ein und dasselbe zu reproduzieren, ist fad. Nur die wenigsten würden sich aber freilich gegen einen stimmungsvollen Sommer wie 2006 sträuben. Vor 18 Jahren aber waren die Voraussetzungen andere, viel günstigere. Russland hatte noch keinen Angriffskrieg begonnen, die Welt schaute nicht so besorgt wie heute nach Palästina und Israel. Angela Merkel war noch nicht einmal ein Jahr Bundeskanzlerin. Anders als ihr Nachfolger Olaf Scholz, sah sie sich nie gezwungen, eine Zeitenwende auszurufen.
Auch dieser Sommer aber kann zu einem großen Fest werden. In einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft sehnen sich die Menschen nach einem Gemeinschaftserlebnis. Die Flutkatastrophe hat gezeigt, dass der Gemeinsinn größer ist als gemeinhin angenommen. Der Fußball aber wird kein lang andauerndes Gefühl kollektiver Glückseligkeit vermitteln. Das tat er auch 2006 nicht. Sport ist in seiner schönsten Ausprägung Realitätsflucht. Dabei sollen die Konflikte und Probleme nicht vergessen werden. Ein permanenter Krisenmodus aber laugt aus und verhärtet von innen.
Auch die Fußball-EM 2024 kann die Fans begeistern
Es ist erlaubt, sich zu freuen. Auf die Europameisterschaft, die deutsche Mannschaft, spannende Spiele, Grillen. Auf tosendes Public Viewing oder die Fokussierung auf den Sport in aller Einsamkeit. Diese Europameisterschaft steht hinter anderen Vorzeichen als die Weltmeisterschaft 2006. Es wird ein anderes Fest werden, aber möglicherweise ein genauso berührendes.
Die Deutschen überraschten sich und ihre Gäste damals mit unbekannter Ausgelassenheit. Das Fußballturnier prägte das Bild des Landes in der Welt über mehrere Jahre mit. Die Weltmeisterschaft bedeutete damals gleichfalls den Start in eine neue Ära des deutschen Fußballs. Erst unter Klinsmanns Anleitung entfernten sich die Deutschen vom pflichtversessenen Verhinderungsfußball hin zu einem attraktiven und aktiven Spiel. Ihren Höhepunkt erreichte die Entwicklung 2014 mit dem WM-Titel unter Joachim Löw. Seitdem geht es wieder bergab. Und es ist auch wieder der Fußball, der das Bild der Deutschen prägt. Digitalisierung, Automobilhersteller, Nationalelf – überall den Anschluss verloren. Die zaudernde Ampelpolitik gleicht den letzten Turnieren der deutschen Elf. Zwei Mal schied das Team in der WM-Vorrunde aus, ein Mal im EM-Achtelfinale.
Fußballfeste waren diese Turniere aus unterschiedlichen Gründen nicht. In Russland und Katar hatte die Fifa zwei Ausrichter für ihr großes Sportfest ausgesucht, die dafür nicht geeignet waren. Staaten, die mit einer demokratischen Gesellschaftsform nur wenig anzufangen vermögen. In denen Diversität und Menschenrechte eine nicht einmal nachrangige Rolle spielen. Die Turniere waren vor allem hierzulande überlagert von berechtigten politischen und gesellschaftlichen Diskussionen. Die Europameisterschaft 2021 hingegen stand noch ganz im Zeichen der Coronapandemie. Fußball konnte nur ein wenig von den Herausforderungen ablenken, vor denen die Gesellschaften weltweit standen.
Der Fußball kann und darf kurzzeitig ablenken
Zur Wahrheit gehört auch, dass in Deutschland auch keine ausgelassene Stimmung aufkommen wollte, weil die Mannschaft dazu keinerlei Anlass gab. Ohne Erfolge, ohne mitreißende Spiele, wird auch in diesem Jahr das Turnier nur ein Turnier sein. Die deutsche Mannschaft allerdings hat zuletzt Hoffnung aufkommen lassen, dass sie ihren Teil zu einem fröhlichen Sommer wird beitragen können.
Sie ähnelt in dieser Hinsicht dem Team von 2006. Das raffte sich nach einer verheerenden Niederlage gegen Italien im Frühling noch vor der WM auf, und ließ zumindest hoffen. Die WM überstieg die Hoffnungen. Auch diesmal geht das Team nicht als Top-Favorit ins Turnier – aber als eine Mannschaft, die andeutet, Tugenden zu verkörpern, die den Fans Begeisterung leichter macht.
In insgesamt zehn Stadien wird während der EM gespielt. Lediglich eines davon steht in Ostdeutschland (Leipzig). Ein Hinweis darauf, wie sehr die neuen Bundesländer im Profifußball abgehängt wurden. Die Klubs hatten nie eine reelle Chance, an das marktkapitalistische Gebaren anzukoppeln. Es war ein gelungenes Symbol, den ersten Teil der Vorbereitung im Weimarer Land zu absolvieren. Das Zeichen: Es soll ein Turnier für das ganze Land sein. Vier Wochen lang hat die Mannschaft nun die Chance, dieses Land ein wenig abzulenken. Für wunderbare Momente zu sorgen. Das ist die Kraft, die der Fußball immer noch hat. Es wird kein Sommermärchen 2.0 werden. Die Zeichen aber stehen gut, dass dieses Turnier seine eigene Geschichte schreibt, auf die später mit einem versonnenen Lächeln zurückgeblickt werden kann.
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