Herr Breitner, in diesem Sommer jährt sich der WM-Erfolg in Deutschland 1974 zum 50. Mal. Wie sind Ihre Erinnerungen an das Turnier?
Paul Breitner: Die Erinnerungen werden sofort wieder wach, wenn sie mich darauf ansprechen. Ich war schon immer ein sehr realistisch denkender Mensch und so habe ich diese Phase mit der WM 1974 und auch der EM zwei Jahre zuvor sehr bewusst aufgenommen und genossen. Ich habe gewusst, dass diese Titel mein weiteres Leben beeinflussen werden sollten. Wann immer mich jemand darauf anspricht, rede ich voller Freude über diese Weltmeisterschaft.
Wie besonders ist es für Sie gewesen, ein Turnier im eigenen Land zu spielen?
Breitner: Das kann ich nicht sagen. Wir Spieler haben von dem, was in der Öffentlichkeit passierte, wenig mitbekommen, so extrem muss ich das sagen. Diese medialen Spektakel, die jetzt möglich sind, gab es nicht – wir hatten ja damals nur zwei oder drei Fernsehstationen. Und als Mannschaft waren wir in einer Sportschule untergebracht, ohne irgendwelchen Kontakt nach außen. In Malente, wo wir unser WM-Quartier hatten, gab es ein oder zwei Telefonapparate – das war im Grunde alles. Ein bisschen was haben wir mitbekommen, wenn wir auf dem Weg von Malente oder von der Münchner Sportschule in Grünwald auf dem Weg ins Stadion waren.
Das wirkt angesichts der heutigen medialen und öffentlichen Begleitung eines Turniers ja fast unwirklich.
Breitner: So war die Zeit damals eben. Auch die Unterbringung in den Sportschulen entsprach damals dem Zeitverständnis. Das war alles ganz normal. Natürlich lief mal der Fernseher und es gab Besuche von der Presse. Aber davon, die Dinge so direkt und hautnah zu spüren – davon waren wir weit weg.
War diese Abgeschiedenheit auch ein Vorteil?
Breitner: Schwer zu sagen. Ich hätte diese Weltmeisterschaft aber nicht anders angenommen. Wenn sie irgendwo in Afrika, in Asien oder sonst wo gespielt worden wäre, dann hätte ich auch Weltmeister werden wollen. Nichts anderes stand für mich im Mittelpunkt.
Mit was verbinden Sie persönlich diese Weltmeisterschaft?
Breitner: Damit, dass diese WM mein Leben und das Leben meiner Familie ganz entscheidend geprägt und in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Diese Weltmeisterschaft hat aus meinem Lebensweg eine Lebensautobahn gemacht. Ohne dieses Turnier wäre ich sicher nie zu Real Madrid gewechselt, vieles hätte sich nicht ergeben. Das alles hatte einen riesigen Einfluss auf unser Leben.
Für viele sind Sie der Torschütze im WM-Finale. Per Strafstoß trafen Sie zum 1:1. Sie sollen mal gesagt haben: "Wenn ich gewusst hätte, was mit diesem Elfmeter passiert, hätte ich nie geschossen." Stimmt das?
Breitner: Wenn ich im Moment, in dem der Schiedsrichter gepfiffen hat, über die Konsequenzen nachgedacht hätte, dann hätte ich sicher nicht geschossen. Denn wenn du in dieser Situation – ein Elfmeter im WM-Finale – nachdenkst, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder du machst dir in die Hose oder du denkst, dass du gleich der große Held wirst. Für mich sind beide Optionen nicht interessant. Ich habe mir nie in die Hose gemacht, und ein Held wollte ich auch nie sein. Weltmeister wollte ich werden! Nichts anderes.
Dabei waren Sie gar nicht als Elfmeterschütze eingeteilt.
Breitner: Wir hatten keinen festen Elfmeterschützen, im ganzen Turnier nicht. Gerd Müller wollte nicht schießen, weil er in der Bundesligasaison zuvor einige versemmelt hatte. Franz Beckenbauer hat nach ihm übernommen und nach dem zweiten Fehlschuss gesagt: Nie wieder. Und in dem Kader war kein anderer Spieler, der in seiner Mannschaft Elfmeterschütze war. Im zweiten Spiel der Zwischenrunde hat Uli Hoeneß sich den Ball geholt und zum 4:2 gegen Schweden verwandelt. Wir haben gesagt: Super, endlich haben wir einen festen Schützen! Dann kam das Halbfinale gegen Polen. Es gab Elfmeter, Uli trat an und hat verschossen. Wir kamen ins Finale und wussten: Wir haben wieder keinen, der dafür eingeteilt ist. Unser Trainer Helmut Schön hat uns immer angefleht: Wir müssen über Elfmeter reden! Aber es hat sich keiner gemeldet.
Und dann gab es wieder einen Elfmeter für Deutschland. Im Finale, beim Stand von 0:1. Mehr Druck geht nicht.
Breitner: Als Bernd Hölzenbein im Strafraum gefoult wurde – es war übrigens definitiv ein Foul und keine Schwalbe – bin ich etwa zehn Meter hinter ihm gewesen. Ich sah, wie Schiedsrichter Jack Taylor auf den Punkt zeigte. Der Ball lag in der Nähe der Eckfahne. Ich war ihm am nächsten und wollte ihn eigentlich nur holen. Und in diesem Moment, als ich mit dem Ball in Richtung Strafraum gelaufen bin, muss sich irgendwo bei mir eine Gehirnwindung geöffnet haben und ich habe mir gesagt: Es will doch eh keiner, ich mach' es jetzt selbst. Und dann habe ihn reingemacht.
An was denkt man in einem solchen Moment?
Breitner: Auch das kann ich leider nicht wirklich sagen, ich habe bis heute dazu einen Filmriss. Der beginnt nach dem Pfiff zum Elfmeter und endet bei Wiederanpfiff. Das ist mir schon direkt nach dem Spiel aufgefallen. Nach Abpfiff ist Wolfgang Overath damals auf mich zugekommen und hat gesagt: Hättest schon netter antworten können. Ich wusste nicht, was er meint, da hat er es mir erzählt. Als ich mir den Ball auf den Punkt gelegt habe, hat mich Overath gefragt: Paul, willst du wirklich schießen? Ich habe offenbar im Dialekt geantwortet: Des siggst doch! Den hau i jetzt nei. Und jetzt schleich di!
Sie haben keine Erinnerung mehr?
Breitner: Nein, wirklich nicht. Ich habe lange versucht, in diese zweieinhalb Minuten reinzukommen – erfolglos. Aber diese Geschichte wird mich bis zu meinem Sterbebett begleiten (lacht).
Ihr Leben sollte nach diesem Tor eine andere Geschwindigkeit aufnehmen.
Breitner: Ohne diesen Elfmeter wäre ich sicher nie zu Real Madrid gegangen. Im spanischen Fußball waren ausländische Spieler von 1968 bis 1973 verboten. Danach waren zwei Spieler erlaubt. Barcelona hat daraufhin Johan Cruyff verpflichtet, Real Madrid Günter Netzer. Über die zweite Ausländerstelle sollte jeweils nach der WM 1974 entschieden werden. Real hätte sicher keinen Vizeweltmeister geholt. Barcelona hat übrigens Johan Neeskens verpflichtet, der in dem Finale das Tor für die Niederlande gemacht hat.
Und Real war dann die Fußball-Autobahn?
Breitner: Es war ein Erlebnis, für diesen Klub spielen zu können und Real Madrid zu erleben. Das war eine eigene Fußball-Galaxie, unvorstellbar. Dieser Klub stand über allen anderen. Ins Stadion passten 125.000 Leute, es war immer ausverkauft. Es war ein Verein, der damals schon auf moderne Weise geführt wurde, als Fußballunternehmen.
Harmonisch ging es im Vorfeld der WM 1974 nicht immer zu, zwischen Verband und Spielern gab es den Konflikt wegen der ungeklärten Prämien-Zahlung. Wie erinnern Sie sich daran?
Breitner: Es gab den Streit mit dem Verband, weil der nicht bereit war, auf unsere Forderungen, die nicht überzogen waren, einzugehen. Der DFB wollte damals nichts davon wissen und lebte noch in einer romantischen Vorstellung von elf Freunden, die eine Mannschaft bilden sollten. Dabei gab es schon seit elf Jahren die Bundesliga, Fußball war für uns ein Beruf. Wir wollten nicht nachgeben. Ich werde da immer als der große Stänkerer hingestellt, was völliger Unsinn ist. Fakt ist: Die Mannschaft hat mich darum gebeten, für sie zu sprechen. Franz war als Kapitän in einer schwierigen Situation, weil er dem Verband vertraut hat. Er hat gehofft, dass sich das irgendwie lösen würde, aber wir wollten die Situation geklärt wissen.
Die 90er-Weltmeister treffen sich noch regelmäßig, gab es bei den 74ern auch eine solche Tradition?
Breitner: Die hat es bis heute nicht gegeben. Das kam dadurch, dass wir beim DFB nicht so wohlgelitten waren nach diesem Turnier. Nach dem Streit wegen der Prämien gab es keine Verständigung mehr. Wir, die 74er-Weltmeister, sind für den DFB bis heute nicht existent. Es hat sich nie einer bei uns gemeldet und eine Einladung ausgesprochen. Wir haben aber auch nichts erwartet, nach Malente war das Tischtuch zerschnitten. Deswegen sind wir als Mannschaft dabei, uns privat zu treffen, um dieses 50-jährige Jubiläum zu feiern. Wo und wann das stattfindet, bleibt aber unser Geheimnis.
Jetzt steht wieder ein Turnier im eigenen Land an. Bei einem Blick auf den aktuellen EM-Kader – was halten Sie sportlich für möglich?
Breitner: Ich bin davon überzeugt, dass wir eine gute Mannschaft haben und gehe ganz unvoreingenommen in diese EM rein. Wichtig werden auf jeden Fall die ersten Spiele sein. Die zeigen an, in welche Richtung es geht.
Bei einem Blick auf die anderen Teams scheint es zumindest nicht so zu sein, dass es eine Übermannschaft gibt, oder?
Breitner: Das sehe ich auch so, selten war eine EM so offen. Und deswegen hat unsere Mannschaft große Chancen, sehr weit zu kommen. Es gibt kein Überflieger-Team im Moment. Warum soll es nicht klappen mit dem großen Wurf?
Zur Person: Paul Breitner, 72 Jahre alt, spielte für den FC Bayern München, Real Madrid und Eintracht Braunschweig. Mit den Münchnern holte er unter anderem fünfmal die Meisterschaft und 1974 den Europapokal der Landesmeister. Mit der Nationalmannschaft gewann er 1972 die Europameisterschaft, 1974 die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Bis heute ist er einer von nur fünf Spielern, denen in zwei WM-Endspielen jeweils mindestens ein Treffer gelang.