Als Erster hatte sich Jordan Pickford vor die enthemmte Menschenmenge gestellt. Beine ausgebreitet, Arme gehoben, Fäuste geballt. Dann brüllte der Torwart mit den englischen Fans um die Wette, die sich ihrer Ekstase ergaben. Selbst als das obligatorische „Sweet Caroline“ aus den Lautsprechern schepperte, übertönte die englische Anhängerschaft alles. Überall entlud sich die unbändige Freude über den EM-Halbfinalsieg gegen die Niederlande (2:1). Wer hatte erwartet, dass England nun das Finale gegen Spanien in Berlin (Sonntag, 21 Uhr/ARD und MagentaTV) bestreitet?
Harry Kane jubelt: „Haben Geschichte geschrieben“
Pathetisch illustrierte Harry Kane den Stolz, als der Kapitän um 22.58 Uhr demonstrativ die drei blauen Löwen auf seinem weißen Trikot küsste. „Wir haben Geschichte geschrieben. Ich bin so stolz auf alle. Es war bisher so ein schwieriges Turnier für uns“, sagte der ausgewechselte Anführer im ersten Interview auf dem Spielfeld. Derweil hatte die Stadionregie die Kult-Hymne „Football’s Coming Home“ aufgelegt, die einst zur Heim-EM 1996 das ständige Scheitern selbstironisch thematisierte. Damals platzten die Titelträume der „Three Lions“ im Elfmeterschießen gegen Deutschland – den entscheidenden Versuch vergab der heutige Nationaltrainer Gareth Southgate. Nun hielt genau dieser Mann gegen Mitternacht im vierten Stock des westfälischen Freudentempels fest: „Wir haben den Leuten einen der besten Abende der letzten 50 Jahre gezeigt. Ich hoffe, sie gönnen sich ein paar Bier. Aber wir sind noch nicht am Ende. Wir haben den größten Test noch vor uns.“
Das Endspiel gegen spielstarke Iberer soll das seit der WM 1966 bestehende Verlangen erfüllen. Der britische König Charles III. übermittelte gleich eine Bitte: „Wenn ich euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden.“ Vor drei Jahren hatte sich der heilige Rasen in Wembley wieder bloß zum Auffangbecken englischer Tränen verwandelt, als es im EM-Endspiel gegen Italien tragisch schiefging. Groteske Elfmeterfehlschüsse und eine fragwürdige Auswahl der Schützen brachten an jenem 11. Juli 2021 vor allem Southgate mächtig in Bedrängnis. Eigentlich schienen seine Tage nach den uninspirierten Auftritten dieser EM in Deutschland bereits gezählt. Bierbecher flogen vor drei Wochen auf einen Fußballlehrer, der am Mittwochabend tatkräftig mitgejubelt hatte. „Wenn man etwas für sein Land tut und ein stolzer Engländer ist, dann möchte man nicht nur Kritik lesen“, beschied der 53-Jährige.
Southgate kann eine starke Bilanz vorlegen
Der Teamchef spannte den Bogen über seine 2016 begonnene Amtszeit, nachdem unter seinen Vorgängern zwei Jahrzehnte lang kein Halbfinale bei EM oder WM mehr herausgesprungen war. „Ich habe die Aufgabe übernommen, um den englischen Fußball nach vorn zu bringen und einen Titel zu gewinnen.“ Bei der WM 2018 war man Vierter geworden, bei der WM 2022 im Viertelfinale Endstation gegen Frankreich, und wer nun zwei EM-Finals dazurechnet, kommt auf eine Bilanz, die Deutschland seitdem gerne genommen hätte. Trotzdem weiß Southgate, dass es zur Akzeptanz seines Tuns noch eine finale Krönung braucht.
Es ist verbürgt, dass sich der Stoiker nach dem vom Elfmeterpunkt gewonnenen Achtelfinale gegen die Schweiz mit seinem Trainerteam in Düsseldorf zwei Flaschen deutschen Weins gönnte. Auch jetzt wirkte Southgate entspannt, als er seine Einschätzungen ohne Überschwang und Eigenlob vortrug. Sein glückliches Händchen, in der Schlussphase den Vorlagengeber Cole Palmer und Siegtorschützen Ollie Watkins zu bringen? „Manchmal kann es so funktionieren“, antwortete er und lächelte selig. Die Koproduktion der Edeljoker mündete in der 90. Minute in die Explosion der Gefühle, die sich Kane und Co. durch eine furiose erste Halbzeit verdient hatten.
Englische Spezialisten für Comebacks
Was in den Gruppenspielen gegen Serbien, Dänemark oder Slowenien noch so aussah, als müsste Declan Rice einen kontrollierten Stiefel herunterspielen; was im Achtelfinale gegen die Slowakei ohne den Fallrückzieher von Jude Bellingham kurz vor Ultimo in einer Blamage geendet wäre, so entfalteten sich nun in einem neuen System die großartigen Anlagen eines Phil Foden oder Bukayo Saka. Von dieser Spiellaune schien die „Elftal“ eine Halbzeit lang schwer beeindruckt. Selbst vom Traumtor durch den Niederländer Xavi Simons (7.) ließen sich englische Comeback-Spezialisten nicht beirren, benötigten aber deutsche Hilfe für den raschen Ausgleich, als Schiedsrichter Felix Zwayer im Zusammenspiel mit Videoassistent Bastian Dankert nach dem Kontakt von Denzel Dumfries gegen Kane einen Elfmeter gab, den der Rekordtorjäger entschlossen zum 1:1 verwandelte (18.).
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