Ein bisschen ist es bei dieser Europameisterschaft wie mit einer Geburtstagsparty, zu der man Freunde zu sich nach Hause eingeladen hat. Bevor die Gäste eintreffen, wird noch geputzt und poliert, im Kühlschrank lagert der etwas bessere Weißwein und im Garten glitzert das neue Klettergerüst, das große Teile der Kinderschar zumindest zeitweise in Zaum halten wird. Zugleich hofft man, dass die Sollbruchstellen des Events halten: Regnen sollte es nicht, Onkel Klaus sollte besser nicht zu viel trinken oder seine politischen Ansichten darlegen.
Auch diese EM rückt das Geschehen in Deutschland ins Brennglas. Selten dürften in schottischen Medien so viele Bilder der Münchner Innenstadt wie zuletzt zu sehen gewesen sein. Hamburg wurde einen Tag lang komplett in Oranje getaucht. Und dann gelangte in diesen Tagen Gelsenkirchen, Spielort von England gegen Serbien am Sonntag, zu eher unfreiwilliger Berühmtheit.
Ein britischer TV-Reporter bemühte sich noch um Diplomatie
Ein britischer TV-Reporter hatte sich fassungslos gezeigt ob des ersten Eindrucks von der Stadt. Kaveh Solhekol bemühte sich um britische Diplomatie, als er sagte: "Ich muss aufpassen, was ich sage, denn ich will die guten Leute in Gelsenkirchen nicht beleidigen." Diese guten Leute hätten aber – so viel Deutlichkeit musste dann auch sein – ein großes Problem mit ihrer Freizeitgestaltung. Denn: "Es gibt hier nicht wirklich viel zu tun." Am Tag vorher sei er noch in München gewesen, was "eine schöne Stadt" sei. Aber hier?
Weniger Zurückhaltung zeigten seine Landsleute am Mikro eines deutschen Sky-Reporters. Mitglieder einer Reisegruppe hatten zuvor offenbar eine Kneipe gefunden, in der ihnen Bier ausgeschenkt worden war, und antworteten auf die Frage hin, was sie zu Gelsenkirchen sagen könnten, schlicht: "Shit." Ein anderer nannte die Stadt auf X "Drecksloch". Na ja.
In Gelsenkirchen machten die Engländer Bekanntschaft mit der Deutschen Bahn
Am Abend nach dem Spiel gegen die Serben machten die englischen Fans Bekanntschaft mit einer echten Sollbruchstelle der Bundesrepublik: der Deutschen Bahn. Weil viele britische Fans ihr Hotel nicht in Gelsenkirchen, sondern in Düsseldorf oder Köln gebucht hatten, sollte es nach der Partie noch per Zug weitergehen – ein Aufkommen, mit dem bei der Bahn offenbar nicht zu rechnen gewesen war. Videos von Fans zeigen, wie noch drei Stunden nach Spielende der Hauptbahnhof voller wartender Schlachtenbummler war, weil Züge ausgefallen waren oder sich stark verzögert hatten. Von wegen german efficiency.
Das ist – na ja, immerhin authentisch. Mit der Bahn leben heißt eben leiden lernen. Und Gelsenkirchens Charme erschließt sich Besuchern offenbar nicht schon bei der ersten Reise. Etwas Sorge macht allerdings, dass selbst die Engländer vor der Stadt erschaudern – Industriebrachen und alte Kohleminen kennt man auch da. Als Nächstes gastieren am Donnerstag die Spanier und Italiener in Gelsenkirchen. Mal sehen, was deren Reporter und Fans davon berichten werden.