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Fußball-EM 2024: Die Ukraine bei der EM: Ball am Fuß, Krieg im Kopf

Fußball-EM 2024

Die Ukraine bei der EM: Ball am Fuß, Krieg im Kopf

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    Schwierige Mission: Mit der Fahne um die Schultern nehmen die Spieler der Ukraine für die Nationalhymne Aufstellung.
    Schwierige Mission: Mit der Fahne um die Schultern nehmen die Spieler der Ukraine für die Nationalhymne Aufstellung. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Sind das wirklich Sätze, die aus dem Munde eines Fußballers stammen? Wer die zum Medienzentrum umfunktionierte Business-Lounge der Arena des SV Wehen Wiesbaden durchschreitet, könnte bei den in Lebensgröße aufgestellten Spielerfiguren ja zweifeln. Da ist bei Mykhailo Mudryk, dem Stürmerstar vom FC Chelsea, das Zitat abgedruckt: „Ihr seid immer in unseren Gedanken. Ihr seid der Stolz und die Ehre der Ukraine.“ Artem Dovbyk, Torjäger vom FC Girona, verlautbart: „Mut für unser Militär – der Schlüssel zu unserem Sieg.“ Und Anatoliy Trubin, der Torwart von Benfica Lissabon, richtet aus: „Jeder von euch ist ein Held und ein Beispiel für uns!“ Die Akteure sprechen also auch für die Armee. Der Zweck dieser Botschaften: Nationalspieler und Soldaten sind eins, weil sie demselben Antrieb folgen. Doch können Fußball und Krieg so einfach miteinander verwoben werden? 

    Der propagierte Schulterschluss ist kein Selbstläufer – und der erste Doppelpass zwischen den Kickern in Deutschland und den Kämpfern in der Heimat nicht geglückt. Nach der Auftaktniederlage gegen Rumänien (0:3) lastet auf der Ukraine gegen die Slowakei in Düsseldorf (Freitag, 15 Uhr/RTL und MagentaTV) sportlich ein noch höherer Druck, wo der Ballast doch ohnehin tonnenschwer war. Der einem erheblichen politischen Einfluss unterliegende ukrainische Fußball-Verband (UAF) unter Führung von Andrij Schewtschenko will es so, dass das Nationalteam bei diesem Turnier die internationale Öffentlichkeit für den russischen Überfall sensibilisiert. Das Fußball-Idol erwähnt bei jeder Gelegenheit „unsere Männer und Frauen an der Front, die es uns ermöglichen, Fußball zu spielen“. Sport und Politik gehören bei diesem EM-Teilnehmer zusammen.

    Teile der zerbombten Stadien werden gezeigt

    Als die Legende bei der EM 2012 zu Hause noch selbst mitspielte, hatte der autokratische Präsident Viktor Janukowitsch zwar enge Verbindungen zu Russland unterhalten, aber niemand hätte sich damals vorstellen können, dass mal ein Krieg in Charkiw oder Donezk toben würde. Vor dem EM-Auftakt hatte Verbandschef Schewtschenko an den Wittelsbacher Platz in München gebeten, um Teile eines zerbombten Stadions zu zeigen. 77 ukrainische Stadien seien teilweise zerstört oder völlig ruiniert. Und wenn der Ball nicht rollen kann, fehlt noch mehr Ablenkung, nach der sich viele sehnen. 

    Was der 47 Jahre alte Schewtschenko unterschätzt haben könnte: Dass es gar nicht so einfach ist, dass seine Nachfolger in Stollenschuhen so tun, als würde man Kampfstiefel tragen. Bei der öffentlichen Trainingseinheit vor fast 4000 nach Deutschland Geflüchteten in Wiesbaden hatte Kapitän Taras Stepanenko den schwierigen Spagat benannt: „Wir checken jeden Morgen die Nachrichten und sehen auf unseren Handys, was passiert. Ich telefoniere jeden Tag mit meinen Eltern“, berichtete der 34-Jährige. „Gleichzeitig sterben aber weiter jeden Tag Menschen, werden jeden Tag Städte zerstört und fliegen jeden Tag russische Raketen. Das ist unser Alltag seit mehr als zwei Jahren.“ Noch bevor es losging, wirkte der Anführer von Schachtar Donezk abgekämpft. Man hat zwar den Ball am Fuß, aber den Krieg im Kopf. 

    Mittelfeldtalent Brazhko lacht keine Sekunde lang

    Auch Nationaltrainer Serhij Rebrow hatte sich beim herzlichen Empfang geäußert. „Wir müssen weiter über den Krieg reden, wir müssen daran erinnern“, sagte der 50-Jährige. Nur so würden seine Akteure damit besser fertig. Doch nach dem blassen Auftritt der Blau-Gelben schwenkte der ehemalige Nationalstürmer um. Jetzt sagt er: „Wir müssen vergessen, was zu Hause passiert ist.“ Leichter gesagt, als getan. Bei der Pressekonferenz am Mittwoch erreichten das noch für Dynamo Kiew Mittelfeldtalent Volodymyr Brazhko unweigerlich erneute Fragen zum Krieg. Antwort des 22-Jährigen: „Die Soldaten verteidigen unsere Heimat. Wir wollen helfen, dass sie wieder lachen können.“ Er selbst lachte allerdings keine Sekunde. 

    Neben ihm schien sich auch Kollege Ruslan Malinovskyi bei dem Pflichttermin nicht wirklich wohlzufühlen. „Wir spielen für unser Volk, jeden Tag. Ich hoffe, dass sie genug Licht haben, um die Spiele zu sehen.“ Der 31-jährige Profi von Genua 1893 verriet, dass die Mannschaft sich zusammengesetzt hätte, um die verfahrene Lage zu erörtern. Nur: „Was in der Kabine besprochen wird, bleibt in der Kabine.“ Was er sagen konnte: „Wir haben genug erfahrene Spieler, die wissen, was zu tun ist.“ Nicht abwegig aber, dass die weit über den Platz reichenden Erwartungen gerade die fußballerische Freiheit rauben. 

    Hubschrauber fliegt über dem Mannschaftsbus

    Überdies residiert die Delegation streng bewacht in Taunussstein, trainiert abgeschirmt auf dem Halberg. Über dem Mannschaftsbus schwebt meist ein Polizeihubschrauber. Doch noch so hohe Sicherheitsmaßnahmen schützen nicht vor krassen Fehlern, wie sie Stammtorhüter Andrij Lunin beging. Der bei Real Madrid spielende 25-Jährige will es jetzt in den nächsten beiden Gruppenspielen unbedingt besser machen. „Wir haben keine Wahl und keine Zeit. Wir müssen umschalten und weitermachen.“ Vielleicht kann sein Team schon gegen den Belgien-Besieger Slowakei für einen Lichtblick sorgen und Hoffnung stiften, die einem Sprichwort zufolge bekanntlich zuletzt stirbt.

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