Niederländische Städte wie Arnheim, Enschede oder Maastricht sind es längst gewohnt, dass am Wochenende oft die Deutschen kommen. Schöne Innenstädte, charmante Wochenmärkte und am Sonntag geöffnete Geschäfte üben insbesondere für Bewohner im Ruhrgebiet großen Reiz aus. Nun rollt allerdings die Reisewelle in die andere Richtung. Ins Luftlinie von der Grenze nur 143 Kilometer entfernte Dortmund, wo zum EM-Halbfinale zwischen Niederlande und England (Mittwoch 21 Uhr/ ARD und Magenta TV) von Seiten der Polizei inzwischen mit 80.000 holländischen Fußballfans gerechnet wird.
Viele haben noch Tickets ergattert, die insbesondere deutsche und türkischstämmige Inhaber die vergangenen Tage angeboten haben. Der „Oranje“-Fanwalk über die Ruhrallee zur Heimstätte von Borussia Dortmund könnte der stimmungsvollste des Turniers werden – und solche Bilder dringen natürlich auch zu den Protagonisten vor. „Wir wissen auch, was zu Hause passiert, wir sehen die Videos. Es ist schön zu sehen, dass Fußball ein ganzes Land zusammenbringen kann“, sagt Abwehrspieler Stefan de Vrij. Außer dem Triumph ihrer Frauen bei der Heim-EM 2017 hatte die Heimat diesbezüglich fast nichts zu feiern, die Männer fehlten sogar ganz bei der EM 2016 und WM 2018, aber nun flammt die Liebe endlich wieder auf.
Die Niederländer haben nicht viele schillernde Stars
Was insofern erstaunlich ist, weil der „Elftal“ die großen Namen von früher fehlen. Beim bislang letzten EM-Halbfinale 2004 scheiterten Stars wie Edwin van de Sar, Edgar Davids, Clarence Seedorf, Arjen Robben oder Ruud van Nistelrooy am Gastgeber Portugal, nun können Bart Verbruggen, Jerdy Schouten, Xavi Simons, Memphis Depay und Cody Gakpo sogar mehr erreichen. Weniger schillernd, aber erfolgreicher? Individuell nicht mehr so herausragend, aber schlagkräftiger als Kollektiv?
Darin steckt die Chance der aktuellen Generation, aus der einige Stützen in der Premier League beschäftigt sind. Insbesondere auf die Abwehrrecken Virgil van Dijk (FC Liverpool) und Nathan Aké (Manchester City) könnte es gegen die „Three Lions“ ankommen. Sollte es tatsächlich mit dem Finale klappen, dann würde unweigerlich die Klammer noch größer gespannt.
Bis zur EM 1988 in Deutschland, als ein Ensemble um die weltweit verehrten Koryphäen Frank Rijkaard, Ruud Gullit und Marco van Basten sich als spielstärkste Mannschaft mit dem bislang einzigen Titel belohnte, und sich nebenbei in München ein bisschen vom Trauma des WM-Finals 1974 befreite. Natürlich wird im Land der Grachten und Windmühlen erwähnt, ob Turniere in Deutschland einfach ein gutes Omen sind. Es wäre ja das dritte Mal, dass die Niederlande hier ein Endspiel bestreiten würde. Nur 2006 war das Nachbarland - Achtelfinalaus gegen Portugal in Nürnberg - kein gutes Omen.
Insbesondere Bondscoach Ronald Koeman, beim Triumph 1988 ein durchaus eigenwilliger Abwehrchef, findet die Vergleiche mit der Vergangenheit weniger hilfreich, aber zufrieden wirkte der 61-Jährige zuletzt schon. Im Februar 2018 heuerte er das erste Mal als Retter für den Königlichen Niederländischen Fußball-Bund (KNVB) an, brachte einiges auf den richtigen Weg, um 2020 den Lockrufen des FC Barcelona zu erliegen. Dort war nach nur 15 Monaten in einer schwierigen Phase wieder Schluss. Im Januar 2023 beerbte Koeman die Trainer-Legende Louis van Gaal, die zuvor bei der WM in Katar in einem hochemotionalen Viertelfinale erst am späteren Weltmeister Argentinien gescheitert war..
Das Beste haben sich die Niederländer vielleicht bis zum Schluss aufgehoben
Koemans zuletzt in Berlin vorgetragenes Mantra ging so, ja nur eine kleine Nation zu sein, die stolz sein könne, mit den Großen aus Spanien, Frankreich und England mitzuspielen. Sein einstiger Lehrmeister Rinus Michels hatte Holland gerne als kickende Weltmacht betrachtet. Dabei hat die Nation ungefähr so viele Einwohner (17,7 Millionen) wie Nordrhein-Westfalen. Bei dieser EM so weit zu kommen, war insbesondere nach einer blassen Gruppenphase – mit dem Tiefpunkt einer ohne viel Gegenwehr erduldeten Niederlage gegen Österreich (2:3) – nicht unbedingt zu erwarten. Aber die spielerische Befreiung gegen Rumänien (3:0) und der kämpferische Akt gegen die Türkei (2:1) berechtigen zur Hoffnung, dass „Oranje“ sich das Beste für die Schlusswoche aufgehoben hat. Im Endspielstadion tanzte vergangenen Samstag bereits die ganze Kurve „naar links, naar rechts“. Kreative Kicker wie der mit Leidensmiene tricksende Simons, der in jeder Hinsicht unberechenbare Depay und der geschmeidige Stürmer Gakpo erfüllen alle Voraussetzungen für jenen Spaßfußball, den die stets gut gelaunten Anhänger sehen wollen, wenn sie in ihren einfarbigen Verkleidungen ihre einmaligen Partylieder singen.
Nie hätte man einmal geglaubt für die Holländer die Daumen zu drücken, aber heute und am Sonntag werden es viele deutsche Fußball-Fans tun.
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