Ganz vereinzelt wagten sie es ja doch: Anhänger von Eintracht Frankfurt trugen am Montagabend ihr Vereinstrikot in die Arena im Stadtwald, obwohl sie damit zu den Exoten in ihrem Heimstadion zählten: Denn in der Nordwestkurve dominierte eigentlich das knallige Rot, mit dem sich Anhänger von Belgien kleiden. Worüber sich Stammbesucher am meisten wunderten: die weit geöffnete Fluchttore, um ungestört einen Umlauf um die gesamte Arena zu unternehmen. Fantrennung? Nicht nötig. Was zu schönen Verbrüderungsszenen führte: Belgische und slowakische Anhänger posierten für Fotos, tauschten Fanutensilien oder hielten Smalltalk in der Schlange am Bierstand.
Diese verbindenden Elemente sind oft bei Bundesligaspielen nicht möglich, weil Gruppierungen wie die in Frankfurt mächtigen Ultras das Hoheitsrecht für ihren Bereich reklamieren. Nun aber ist die Stadt bei ihrer Turnierpremiere dem Trend gefolgt, der bei dieser EM schon viele Herzen berührt hat. Man geht entspannt miteinander um, begreift das Turnier als das, was sein Slogan vorgibt: United by Football. Auf einmal kommen sich auch Dänen und Slowenen näher, verbrüdern sich Rumänen und Ukrainer.
Der Fußball vereint die Fans tatsächlich
Fanexperte Michael Gabriel hatte genau das im Vorlauf dieser zweiten EM nach 1988 in Deutschland erwartet. "In Ländern wie Slowenien oder Albanien hat eine große Vorfreude geherrscht, denn diese Nationen qualifizieren sich in der Regel nicht. Wir müssen bei vielen Ländern auch mitbedenken, dass es eine große Diaspora in Europa gibt." Insbesondere auf Polen, Kroatien oder die Türkei träfe das ja zu. So kommt eines zum anderen, was die farbenfrohen Kulissen erklärt.
Wenn mehr als die Hälfte des Publikums bereit ist, vollen Support für die beteiligten Nationalteams zu geben, braucht es keine Vorsänger für eine Kurve. Dieses internationale Event ist atmosphärisch ein wunderbares Kontrastprogramm zum nationalen Alltag, und überdies vernarben die letzten Wunden, die die Geisterspiele in Coronazeiten gerissen haben. Vor drei Jahren wurde in fast allen Stadien in Europa in nur teilgeöffneten Arenen gespielt, was von Rom bis Glasgow kräftig auf die Stimmung drückte. Bei der WM 2022 in Kater hatte zwar das Virus keinen, dafür aber die Politik großen Einfluss – und die meisten Anhänger aus Europa scheuten die Reise in die Wüste, wo Südamerikaner, Afrikaner und Asiaten den Ton setzten.
Insofern erlebt Deutschland, wie auf den Tribünen wieder Fanträume in Erfüllung gehen. Ausländische Gäste bereichern mit ihrer großen Freundlichkeit die zehn Spielorte, während es bei der WM 2006 genau umgekehrt war. Da präsentierte sich derselbe Gastgeber so offen und ausgelassen, dass die angereisten Menschen aus aller Welt sich haben mitreißen lassen. Nun schwappt die Welle der Begeisterung außerhalb der Landesgrenzen hinein.
Nur die Auszeichnung als perfekter Organisator hat 18 Jahren später erste Schrammen abbekommen. Die ohnehin marode Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ist dem Ansturm in Teilen nicht gewachsen. Insbesondere die Bahn droht sich international zu blamieren. Noch ist es zu früh für ein Fazit, aber hier erwächst gerade das Kardinalproblem beim Ausrichter: So vehement den öffentlichen Transport mit dem Ziel der Nachhaltigkeit beworben zu haben, ohne entsprechende Verbesserungen tatkräftig im Vorlauf anzugehen, war nahezu naiv. Bislang scheint das den meisten Fans nicht die Laune zu vermiesen, was sich aber ändern könnte, wenn sich die massiv beispielsweise in Gelsenkirchen aufgetretenen Probleme verschärfen.