Es ist noch nicht überliefert, wie Uli Hoeneß die Kunde aufgenommen hat, die am Freitagvormittag vom Deutschen Fußball-Bund verbreitet wurde: Andreas Rettig, ehemaliger Bundesliga-Manager beim 1. FC Köln, dem FC Augsburg oder St. Pauli, wird ab sofort neuer Geschäftsführer Sport beim DFB und verantwortet dort die Bereiche Nationalmannschaften und Akademie. Damit übernimmt er die seit neun Monaten vakanten Bereiche, für die zuvor Oliver Bierhoff zuständig war. Das ist gemeinhin das, was man als "neuer starker Mann" bezeichnet. Die Ernennung als solche ist wiederum das, was gemeinhin als "faustdicke" Überraschung gilt. Denn Rettig trat zuletzt als einer der heftigsten Kritiker des Systems Profifußball auf – womit der Bogen zu eben jenem Uli Hoeneß geschlagen wäre. Der hatte Rettig vor einem Jahr als "König der Scheinheiligen" bezeichnet.
Auslöser war damals die Kritik Rettigs an der WM in Katar gewesen. Im Sport1-Doppelpass hatte Rettig das Turnier an und für sich und insbesondere die Rolle des FC Bayern kritisiert, der mit dem Emirat damals noch einen Sponsorendeal abgeschlossen hatte: Die WM müsse ein "PR-Desaster" werden, der FC Bayern mache sich zum Gehilfen eines menschenverachtenden Systems. Der erzürnte Hoeneß ließ sich damals live in die Sendung schalten, lieferte sich mit seinem Kritiker ein Wortgefecht – und wird nun mit einem DFB-Geschäftsführer Rettig zusammenarbeiten müssen. Auch seinen neuen Arbeitgeber, den DFB, hatte Rettig zuletzt scharf ins Visier genommen. Im Gespräch mit unserer Redaktion hatte er zu Jahresbeginn die vom Verband vorgelebte Nachwuchsarbeit kritisiert: "Wir haben alle jahrelang einen falsch verstandenen Professionalismus in den Leistungszentren propagiert. Wir dachten, wir müssen den Nachwuchsspielern alles aus dem Weg räumen und ihnen die Unterhosen bügeln. Das führte dazu, dass zu schnell alle zufrieden sind."
Bei Viktoria Köln integrierte Rettig eine Gemeinwohl-Klausel
Tatsächlich könnte mit Rettigs Ernennung ein Kulturwandel innerhalb der Branche einhergehen. Schon bei seiner letzten Station im Profi-Fußball, dem Drittligisten Viktoria Köln, hatte Rettig bei Spielerverträgen eine Sozial-Klausel integriert. Diese besagte, dass Spieler einen gewissen Teil ihrer Arbeitsstunden nicht nur auf dem Fußballplatz oder dem Kraftraum verbringen, sondern auch dem Gemeinwohl widmen sollen. "Wir werden Vorschläge machen: Blut spenden, Betreuung älterer Leute, im Krankenhaus oder im Kinderheim helfen", hatte Rettig bei Dienstantritt im Mai 2021 gesagt. Ein vielversprechender Ansatz, der aber schon ein Jahr später vorzeitig mit Rettigs Ausscheiden bei Viktoria endete.
Man darf gespannt sein, wie viel von seinen Vorstellungen Rettig beim DFB umsetzen wird und kann. Rettig ist seit vier Jahrzehnten in der Branche unterwegs, war neben Stationen in der Bundesliga auch Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL). Dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Fußball-Branche zuletzt massiv gelitten habe und zugleich eine der Grundvoraussetzungen für ihr Überleben sei, hatte er aber immer wieder betont. Am Beispiel der gesunkenen TV-Quoten der WM in Katar etwa lasse sich seiner Meinung nach ein Trend ausmachen: "Eine Branche, die mit und durch die Öffentlichkeit ihr Geld verdient, benötigt gesellschaftliche Akzeptanz. Wenn sie die nicht mehr hat, wird sie kein Geld mehr verdienen."
Rudi Völler hatte Andreas Rettig als "Schweinchen Schlau" bezeichnet
Angeeckt ist Rettig nicht zuletzt auch mit einem alten Bekannten: Rudi Völler. Vor einigen Jahren hatte Rettig als damaliger Manager des FC St. Pauli gefordert, die von der "50+1"-Regel befreiten Vereine von der Verteilung der TV-Gelder auszuschließen – also den VfL Wolfsburg, die TSG Hoffenheim und Bayer Leverkusen. Völler war damals noch Bayer-Sportchef und konterte den Vorschlag als populistisch: "Das ist ein typischer Rettig. Er macht ein bisschen auf Schweinchen Schlau."
Branchenintern ist Rettig der Spitzname geblieben; er selbst sieht das mit einer Prise Humor. Nun wird es an Völler und "Schweinchen Schlau" liegen, eine der größten Missionen des Deutschen Fußball-Bundes zu einem Gelingen zu führen: In nein Monaten startet die Europameisterschaft im eigenen Land und Deutschland hat nach dem Aus von Hansi Flick noch keinen neuen Bundestrainer.
FCA-Geschäftsführer Michael Ströll: "Der DFB hat eine gute Wahl getroffen"
Rettig wird sich am Montag in Frankfurt zusammen mit Präsident Bernd Neuendorf den Fragen der Öffentlichkeit stellen und will sich zuvor noch nicht äußern. Vorab ließ er über den DFB ausrichten: "Ich möchte dazu beitragen, künftige Erfolge der Nationalmannschaften wieder möglich zu machen und die Ausrichtung des DFB und das Auftreten seiner Mannschaften in allen Richtungen zu verbessern." Sein ehemaliger Arbeitgeber, der FC Augsburg, begrüßt den Schritt, wie Geschäftsführer Michael Ströll sagt: Andreas Rettig stehe für die Einheit des Fußballs, weil er nicht nur die Bedürfnisse des Profifußballs kenne, sondern auch die Basis mit Nachwuchs und Amateurfußball fest im Blick habe. "Er kann auch unbequem sein, was vor allem wichtig ist, wenn man Prozesse und Veränderungen anstoßen möchte, die zwingend nötig sind. Der DFB hat eine gute Wahl getroffen und ich freue mich auf den zukünftigen Austausch mit ihm in seiner neuen Rolle." Uli Hoeneß oder der FC Bayern veröffentlichten bis zum Abend noch keine Stellungnahme.