Herr Réthy, vor 60 Jahren startete die Bundesliga. Wollten Sie denn auch, wie viele Kinder damals und heute, irgendwann einmal Bundesligaspieler werden?
Béla Réthy: Als die Bundesliga gegründet wurde, war ich sechs Jahre alt und habe in Brasilien gelebt. Dort wollte damals jedes Kind Pelé werden und das galt auch für mich. 1967 bin ich dann nach Deutschland gekommen und habe mein erstes Bundesligaspiel in München im Stadion an der Grünwalder Straße gesehen, Bayern gegen Köln. Das hat mich schwer beeindruckt, aber ich war damals schon realistisch genug, dass mein Talent für den großen Fußball eher nicht ausreichen wird und aus mir wohl kein Bundesligaspieler wird.
Stattdessen sind Sie als Fußball-Kommentator ein Beobachter der Bundesliga geworden. Was glauben Sie: Wann war die beste Zeit der Liga?
Réthy: Finanziell bestimmt jetzt (lacht). Aber was die Emotionen betrifft, gab es früher bessere Phasen. Ich habe 1983/84 als Bundesliga-Reporter für das "Aktuelle Sportstudio" angefangen und das war eine super Zeit. Man hatte als Journalist noch einen ganz unmittelbaren Zugang zu den Spielern und konnte spontane Interviews neben dem Tor oder am Spielfeldrand machen, man musste nicht diverse Filter durchlaufen – das ist heute undenkbar.
Für uns Journalisten war das klasse, aber auch für die Spieler war es eine bessere Zeit. Es gab noch keine sozialen Medien, die Kicker konnten abends auch mal ausgehen, ohne dass sofort alle Handys gezückt werden.
Damals habe es auch noch echte Typen auf dem Platz gegeben, heißt es immer. War das so?
Réthy: Durchaus, in den Siebziger- und Achtzigerjahren gab es noch Spieler wie Günter Netzer, die noch nicht so angepasst waren. Netzer konnten wir übrigens für die Dokumentation über 60 Jahre Bundesliga ausführlich interviewen, das hat mich ganz besonders gefreut. Auf meine Frage, ob er heute noch Sport treibe, hat er mir geantwortet: "Béla, ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Sport getrieben", er war ja während seiner aktiven Zeit nicht gerade als lauffreudig bekannt (lacht). Jeder von den Protagonisten, die wir befragt haben, hätte einen eigenen Beitrag verdient. Bei Leuten wie Jürgen Klopp oder Felix Magath reicht ja ein Stichwort und schon sprudeln die Anekdoten und Geschichten. Wir haben uns echt schwergetan, Sachen wegzulassen. Das mussten wir aus Zeitgründen aber.
Welche Bundesliga-Momente sind Ihnen unvergesslich?
Réthy: Als Schalke im Mai 2001 die deutsche Meisterschaft knapp verpasste und hinter dem FC Bayern nur Meister der Herzen wurde. Da war ich in Gelsenkirchen im Stadion und die Schalker haben nach dem Abpfiff minutenlang die Meisterschaft gefeiert, das war das Emotionalste, was ich je erlebt habe – und dann schoss Bayern in Hamburg den Ausgleich und schnappte ihnen die Trophäe doch noch weg. Oder die vergebene Meisterschaft von Eintracht Frankfurt 1992 gegen Hansa Rostock, das war auch ein solcher Moment. Da hat Eintracht-Trainer Stepanovic bei mir am Mikro den berühmten Satz gesagt: "Lebbe geht weider."
Der heutige Fußball ist ein bis ins Letzte durchkalkuliertes Milliardengeschäft. Muss das so sein?
Réthy: Das kommerzielle Beiwerk ist manchmal etwas problematisch, aber der Fußball ist nicht schlechter geworden – ganz im Gegenteil, es wird heutzutage ja viel athletischer und schneller gespielt als früher. Die gute alte Fußballzeit wird oft auch etwas verklärt.
Was sagen Sie zu den abartigen Summen, die im Profifußball an Gehältern und Ablösen gezahlt werden?
Réthy: Damit müssen wir leben, denn sobald wir eine Deckelung einführen, wird schwarz gezahlt wie in den Sechzigern. Wenn ein Spieler so viel Geld angeboten bekommt, dann nimmt er es natürlich, das sehe ich ganz pragmatisch. Das funktioniert nach den Gesetzen der Marktwirtschaft, also nach Angebot und Nachfrage. Wir können die Zeit nicht mehr zurückdrehen.
Wie lässt es sich ändern, dass der FC Bayern immer Meister wird, was seit Jahren für eine gewisse Langeweile in der Bundesliga sorgt?
Réthy: Das haben wir in der gerade abgelaufenen Saison gesehen, als es Borussia Dortmund fast geschafft hat. Ich glaube, Bayern wollte diesmal gar nicht Meister werden, aber Dortmund hat es am letzten Spieltag halt vergeigt.
Sie waren über viele Jahre im Fußballgeschäft dabei und haben bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr Ihr letztes Spiel kommentiert. Vermissen Sie den Zirkus schon ein bisschen?
Réthy: Noch nicht, weil ich mit der Bundesliga-Dokumentation so viel zu tun hatte, außerdem bin ich an einem Film über die WM 2022 beteiligt. Als ich vor kurzem meinen Sohn in München besucht habe und auf der Autobahn an der Allianz-Arena vorbeigefahren bin, wurde ich allerdings doch ein bisschen sentimental und habe mir gedacht: Mensch, da warst du so oft und jetzt fährst du einfach so vorbei. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr dazugehöre.
Gehen Sie manchmal als Zuschauer ins Stadion?
Réthy: Durchaus, ich war im Juni beim Pokalfinale Frankfurt gegen Leipzig und habe vor kurzem in meiner Heimatstadt Wiesbaden auch verfolgt, wie der SV Wehen Wiesbaden in die zweite Bundesliga aufgestiegen ist. Ich freue mich auf die neue Saison, wenn ich nicht mehr beruflich ins Stadion muss, sondern mir samstags aussuchen kann, ob ich zum Fußball gehe – oder daheim bleibe.
Viele fanden Sie gut, andere weniger, es gab auch oft Kritik an Ihrer Arbeit. Braucht man ein dickes Fell als Fußball-Kommentator?
Réthy: Ja klar, was dem einen gefällt, gefällt dem anderen nicht. Ich habe manchmal Spiele mit mehr als 30 Millionen Zuschauern kommentiert und darunter waren immer welche, denen meine Arbeit nicht gepasst hat. Mir war das bewusst, hat mich aber ehrlich gesagt nicht wirklich interessiert.
Sie haben immer einen sachlichen Stil gepflegt, viele Ihrer Kollegen setzen mehr auf Emotionen. Wie finden Sie es, wenn ein Kommentator am Mikrofon brüllt?
Réthy: Ist nicht mein Geschmack. Man kann mit der Stimme ja spielen, man darf auch mal aus dem Sattel gehen und ein bisschen lauter werden. Rumschreien finde ich nicht so gut, halte es allerdings aus. Ich weiß schließlich, wie schwierig dieser Job ist.
Was war Ihre Sternstunde?
Réthy: Vielleicht das erste Finale, das ich bei einem großen Turnier kommentiert habe, das Endspiel um die Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und Tschechien 1996 im Londoner Wembley-Stadion. Oliver Bierhoff schoss den Siegtreffer, Deutschland wurde Europameister, es war alles da, was ein großer Abend braucht.
Und wie geht’s mit der Bundesliga weiter – gibt’s die bald nur noch im Pay-TV zu sehen?
Réthy: Die Befürchtung gibt es, und wenn die großen Player es wollen, dann wird es irgendwann auch so sein.
Zur Person:
Er zählt zu den bekanntesten Fußballexperten im deutschen Fernsehen: Von 1996 bis 2018 kommentierte Béla Réthy alle Endspiele der Welt- und Europameisterschaften, die im ZDF übertragen wurden. Jetzt kehrt der 66-Jährige mit einer filmischen Würdigung der Bundesliga, die ihren 60. Geburtstag feiert, ins Fernsehen zurück: Die Dokumentation "Titel, Tore, tausend Träume – 60 Jahre Bundesliga mit Béla Réthy" (5.8., ZDF) schildert die Geschichte der Liga vom ersten Spieltag am 24. August 1963 bis heute.