Herr Zeigler, selten war die Bundesliga so spannend wie in dieser Saison – sowohl oben als auch unten. Versöhnt Sie das als bekennender Romantiker etwas mit dem lange so vorhersehbaren Profifußball?
Arnd Zeigler: Darüber habe ich in den letzten Tagen viel nachgedacht und deswegen: ein klares Jein. Ich stelle fest, wie schwierig es gerade ist, in Diskussionen mit Bayern-Fans zu treten. Die müssten ja eigentlich verstehen können, dass jeder, der es nicht mit ihrem Verein hält, sich endlich mal einen anderen Meister wünscht. Das hat nichts mit einer stumpfen Antipathie zu tun – sondern damit, dass man sich die Spannung einfach wieder zurückwünscht. Wenigstens mal für ein Jahr. Und wenn der BVB jetzt zehnmal in Folge Meister geworden wäre, würde man es andersrum auch den Bayern gönnen. Aber die Sache mit der verloren gegangenen Spannung ist zugleich auch der Punkt, der mir wirklich Probleme bereitet. Früher war es doch manchmal so, dass sogar noch drei Vereine am letzten Spieltag die Chance auf den Titel hatten. Es gab fiebrige Foto-Finishs am letzten Spieltag, und jetzt ist es fast eine Sensation, wenn die Meisterschaft vor dem letzten Spieltag nicht schon seit Wochen entschieden ist. Uns ist da etwas ganz Elementares verloren gegangen. Und mal sehen, wie nachhaltig diese Spannung ist, die wir jetzt haben.
Es könnte tatsächlich eine Momentaufnahme sein. Der BVB hat auch deswegen die Chance, weil die Bayern für ihre Verhältnisse eine Katastrophen-Saison spielen. Ist die Stärke des BVB die Schwäche der Bayern?
Zeigler: Wer am Ende vorne steht, hat es auch verdient. Wenn der BVB das jetzt durchzieht, ist er der verdiente Meister – genauso wie die Bayern, wenn es doch noch klappen sollte. Aber es stimmt schon, dass die Bayern so viele Probleme haben wie seit langem nicht mehr. Für mich ist faszinierend, dass ein so guter Trainer wie Thomas Tuchel jetzt so oft so dermaßen ratlos ist und immer wieder bekennen muss: Ja, ich habe auch keine Ahnung, was hier gerade wieder passiert ist. Dieses alte Selbstverständnis der Bayern, dieses "Mia san mia" – das scheint gerade komplett verschüttet zu sein.
Können Sie sich an eine vergleichbare Bayern-Krise erinnern?
Zeigler: Ich kann mich noch gut erinnern an die Zeit, als Sören Lerby 1991/92 mal ein halbes Jahr lang Bayerns Trainer war. Da war es noch extremer. Aber die Art und Weise, wie das jetzt den Bach runtergeht – das ist schon spektakulär. Ich habe mal ausgerechnet: Unter Julian Nagelsmann haben die Bayern im Schnitt 2,08 Punkte geholt – unter Tuchel sind es jetzt 2,0. Und er ist aus beiden Pokalen ausgeschieden. Die Verantwortlichen betonen ja immer wieder, dass der Trainerwechsel trotzdem goldrichtig war, oder "alternativlos", wie eine ehemalige Kanzlerin gesagt hätte. Aber jetzt fehlen langsam die Argumente für diese Behauptung. Eine gewisse Zeit lang war ja mal ein Gegentor der Bayern eine Sensation, erst recht eine Niederlage oder eine Heimpleite. Jetzt haben wir das alles innerhalb von wenigen Wochen mehrfach gehabt. Überhaupt fand ich es mutig, dass die Bayern nach dem Lewandowski-Abgang ohne einen echten neuen Mittelstürmer in die Saison gegangen sind und trotzdem so getan haben, als würden sie wie immer klar Meister werden und wahrscheinlich auch international ganz weit kommen. Früher hätten sie Lewandowski durch zwei Spieler ersetzt, die beide jeweils 60 Millionen kosten. Jetzt haben sie Sadio Mané geholt, der inzwischen mehr als reiner Show-Transfer empfunden wird. Aber es ist ja nicht nur das. Sie haben so viele Baustellen: Die Debatte um die Führungspersonen, die mir unerklärliche Torwartdiskussion um Yann Sommer, diese Trainerentlassung. Es ist so unfassbar viel zusammengekommen.
Bekommen die Bayern diese Probleme denn in der Sommerpause gelöst?
Zeigler: Im Normalfall würde Thomas Tuchel mit einer derart verheerenden Bilanz jetzt infrage gestellt werden, aber die Bayern können ja nicht schon wieder den Trainer wechseln. Und wen wollen sie denn auch holen? Sie haben mit Nagelsmann den aufstrebenden, vermeintlich besten jungen deutschen Trainer geholt und ihn dann durch Thomas Tuchel, den wohl renommiertesten freien deutschen Trainer, ersetzt. Aber was machen sie, wenn die jetzt die Trainerposition nochmal neu besetzen müssten? Ich wüsste es nicht. Und lauter Spieler jetzt für dreistellige Millionenbeträge zu holen, um Manchester City und Co. nächste Saison mal so richtig den Hintern zu versohlen – das wird auch nicht passieren. Die Bayern müssen sich neu erfinden.
Steht Bayern am Scheideweg: weiter im Konzert der Großen mitspielen oder den Verein schrumpfen?
Zeigler: Ich habe es jahrelang schon mit viel Respekt beobachtet, wie die Bayern bislang diesen Spagat geschafft haben und Vereine, die finanziell ganz andere Mittel haben, in Schach hielten. Aber jetzt scheint ein Punkt erreicht, an dem man das Gefühl hat: Das wird jetzt nicht weiter so funktionieren. Die englischen Vereine können weiter aus dem Vollen schöpfen, es gibt Paris, die spanischen Klubs, die italienischen Vereine stehen gerade in jedem Europapokal-Finale. Geld alleine bringt nichts, wie man bei Chelsea sieht. Man muss sich eine Philosophie überlegen, mit der man wieder den Anschluss findet, und das wird schwierig.
Wie wichtig wäre ein Titel des BVB für die Bundesliga?
Zeigler: Als ich Fußballfan geworden bin, gab es in meinen ersten vier Jahren vier verschiedene Meister. Und jetzt traut sich doch keiner mehr, ernsthaft die Frage zu stellen, wer deutscher Meister wird. Weil sie töricht ist! Das Geld vor allem aus der Champions League hat dafür gesorgt, dass die Zustände nun so zementiert sind. Nach der Jahrtausendwende gab es mal Wolfsburg und Stuttgart, die Meister wurden, dann muckte der BVB noch mal auf – und seitdem waren nur noch die Bayern dran. Das ist eine krasse Fehlentwicklung des Fußballs. Ligen sind nicht dafür gemacht worden, dass am Ende immer der Gleiche oben steht. Als ich Fußballfan wurde, gab es Kernsätze, die heute nicht mehr gelten, weil sie schleichend kaputtreformiert wurden: "Die Menschen gehen ins Stadion, weil sie nie wissen, wie es ausgeht" hat mal Sepp Herberger gesagt. Inzwischen weiß man gefühlt in 19 von 20 Fällen sehr wohl, wie es ausgeht. Und "Geld schießt keine Tore" würde heute auch niemand mehr sagen.
Die Deutsche Fußball-Liga scheiterte in dieser Woche damit, Investoren ins Boot zu holen. Wie sinnvoll ist es denn, immer noch mehr Geld in diese Maschinerie zu schleusen?
Zeigler: Ich sehe das wie viele andere Leute auch sehr, sehr kritisch. Wenn mehr Geld kommt, heißt das ja nicht, dass die Liga insgesamt dann gesünder wäre. Schlecht wirtschaftende Vereine werden durch frisches Geld von außen noch für ihr Missmanagement belohnt. Und die großen Unterschiede zwischen den Armen und den Reichen der Liga wären noch krasser geworden. Die sind es aber, die uns das Produkt Bundesliga mittelfristig kaputt machen. Der VfL Bochum, Heidenheim oder der HSV haben nichts davon, wenn sie ein bisschen Geld hingeworfen bekommen, wenn gleichzeitig die international spielenden Vereine am Horizont verschwinden, auf Nimmerwiedersehen. Es gibt sehr kluge Menschen wie Andreas Rettig, die immer gegen diese Windmühlen kämpfen und vor den Abhängigkeiten warnen, in die man sich begibt. Und es gibt die Proteste aus den Fankurven, die ich nicht immer, aber in diesem Fall teile. Die waren übrigens in Dortmund und München besonders laut, also bemerkenswerterweise dort, wo der Investoreneinstieg am meisten herbeigesehnt wurde. Der Fußball ist ein ganz sensibles Gesamtmodell. In der Corona-Zeit haben die Fans gelernt, dass notfalls auch ohne Zuschauer gespielt wird. Die WM in Katar hat gezeigt, dass auch Weltmeisterschaften durchgezogen werden, die hier niemandem gefallen. Es ist gerade eine massive Entfremdung in Gang gekommen. Wenn man den Leuten das Signal sendet: Es ist völlig egal, was ihr als Fans macht und ihr müsst jetzt alles schlucken – dann geht irgendwann das verloren, was dieses Spiel ausmacht: die Freude daran. Und ich empfinde es auch als sehr bizarr, dass wir seit 20 Jahren gegen die unanständigen und absurden Summen wettern, die den englischen Fußball versauen. Und jetzt stellen wir uns als Bundesliga hin und sagen: "Ach, aber so ein ganz kleines bisschen würden wir jetzt langsam auch gerne mal mit absurden Summen versaut werden!"
Ohnehin scheinen TV-Zuschauer schon längst wichtiger zu sein als die Fans im Stadion. Das große Geld wird über internationale Märkte eingenommen.
Zeigler: Wir müssen uns alle klarmachen, dass der Fußball nicht mehr so funktioniert, wie noch vor 30 Jahren. Aber muss man deswegen alles hinnehmen? Ich hatte vor etwa vier Jahren ein Aha-Erlebnis. Mein inzwischen großer Sohn hat sich ein Spiel im Fernsehen angesehen und zu mir gesagt: "Du, wenn Fußball immer schon so gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich nie Fan geworden!" Das ist ein Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Wie blicken denn heute 20-Jährige auf eine Liga, in der immer der Gleiche vorne steht? Die im Grunde gesagt bekommen: Ja gut, so war der sportliche Wettbewerb zwar ursprünglich mal nicht gedacht, aber jetzt ist es so und basta! Man kann das Rad nicht zurückdrehen. Aber wir müssen uns doch mit aller Macht einen Fußball erhalten, der uns alle weiterhin fesselt und der uns viel bedeutet, manchen Fans sogar alles. Wenn ich im Rahmen meiner Live-Tour unterwegs bin, merke ich: Die eigentliche Faszination, die die meisten Leute mit dem Fußball verbindet, rührt nicht von der aktuellen Champions League oder den letzten zwei Weltmeisterschaften her – sondern vom Fußball ihrer Jugend. Das kann man dann als ewig gestrig bezeichnen. Aber es ist der Fußball, mit dem wir sozialisiert worden sind. Hochglanz-Fußball ist Unterhaltungsfußball. Den schaut man, aber der berührt uns nicht.
Es war ein Fußball, in dem der FC Bayern auch mal keinen Titel holen konnte und trotzdem nicht gefühlt vor der Vereins-Auflösung stand.
Zeigler: Ich finde es interessant, wie man sich als Bayernfan jetzt gerade fühlen muss. Vor allem dann, wenn man noch jung ist und zum ersten Mal verinnerlicht: Es kann sein, dass wir keinen Titel holen. Dass wir gefühlt die Loser und andere besser sind. Kann sein, dass sich der ein oder andere Bayernfan dann denkt: "Moment, das war aber ganz anders abgesprochen! Es ist doch so, dass wir zum Schluss immer oben stehen müssen!" Zumal es bei Bayern seit einigen Jahren ja auch so ist: Wenn sich einer verletzt, dann kommt kein Ersatzspieler mehr aufs Feld – sondern einer, der 60 Millionen und damit teilweise mehr als der gesamte Kader des Gegners gekostet hat. Das ist sehr schön für die Bayern und sehr schlecht für den Fußball.
Jetzt mal zu etwas Positivem für Sie als Werder-Fan. Beim spannendsten Saisonfinale seit langer Zeit ist ausgerechnet Ihr Verein vorab schon gerettet. Fühlt sich das gut an?
Zeigler: Definitiv. Das ist schon lange nicht mehr so gewesen. Als Bremer musst du dir zudem bewusst machen, dass ein zwölfter Platz in der Bundesliga toll ist und dass du viel mehr wahrscheinlich auch so schnell nicht erreichen wirst. Es gibt andere Vereine, die ein anderes Geschäftsmodell haben und sich da offenbar leichter tun: Freiburg oder Union Berlin etwa. Die gehorchen scheinbar eigenen Gesetzen und leben in einer viel unaufgeregteren Fußballwelt als die in Schieflage geratenen Traditionsvereine wie Hertha, Schalke oder der HSV. Ich hoffe sehr, dass es in Bremen jetzt auch in diese Richtung geht: Gute Arbeit abliefern, sich der Überhitzheit des Geschäfts verweigern und einen eigenen Weg finden.
Wer ist Ihr Mann der Bundesligasaison?
Zeigler: Das ist schwierig. Ich finde die Geschichte von Sébastien Haller bemerkenswert. Der ist ein ganz wichtiger Mann für den voraussichtlichen neuen deutschen Meister – und zugleich jemand, der dem Tod ins Gesicht geblickt hat. Er war schwer krank, hat eine Krebsoperation hinter sich und möglicherweise am Ende die Meisterschale in der Hand. Ansonsten kann man da immer Christian Streich nennen. Der funktioniert außerhalb der Konkurrenz, nutzt sich nicht ab und ist ein Gegenentwurf zu diesem Geschäft. Aber auch die Geschichte mit Nils Petersen, der in seinem letzten Spiel noch mal ein Jokertor schießt und das ganze Stadion zu Tränen rührt – das ist doch unglaublich. Hier wird ein Spieler dafür belohnt, dass er einfach ein anständiger Sportsmann mit Format ist. Das sind die emotionalen Geschichten, die uns geblieben sind und die wir wirklich hochhalten und genießen müssen.
Noch ein Blick nach unten: Augsburg, Schalke, Bochum und Stuttgart sind noch im Abstiegsrennen. Wer rettet sich?
Zeigler: Ich fürchte, dass es für Schalke nicht reichen wird. Das wäre schade, weil die der Liga eigentlich wirklich gutgetan haben und mit Thomas Reis wirklich sehr gefestigt wirken. Ich glaube, dass Stuttgart sich retten und Augsburg nicht mehr reinrutschen wird. Und Bochum folglich in der Relegation spielt.
Ein Wort zum FC Augsburg. Die Mannschaft dürfte sich in dieser Saison nicht gerade in Ihr Herz gespielt haben, beim Spiel in Bremen gab es großen Ärger in der Schlussphase.
Zeigler: Ich persönlich finde: Es ist beim FCA immer ein bisschen zu viel Krawall, wenn Spiele nicht nach ihrem Wunsch laufen. Es ist bemerkenswert, dass Augsburg es geschafft hat, wirklich ein etablierter Bundesligist zu werden. Aber mir ist das zu viel Hopserei und Beschwerde, wenn ich etwa Stefan Reuter echauffiert an der Seitenlinie sehe. Gefühlt bei jedem Spiel. Ich glaube, sie tun sich keinen Gefallen damit, dass sie diese Erregtheit immer wieder so durchknallen lassen. Das war ja nicht nur in Bremen so.
Freuen Sie sich auf den 1. FC Heidenheim? Sie haben sich neulich in Ihrer Sendung als großer Fan von Trainer Frank Schmidt geoutet.
Zeigler: Heidenheim ist ein Paradebeispiel für einen Verein, bei dem über lange Zeit richtig gut gearbeitet wird. Diesen Erfolg haben sie sich einfach verdient. Und das alles mit Frank Schmidt, der seit 16 Jahren dort Trainer ist, das ist so eine fantastische Geschichte. Er ist ja gewissermaßen der Christian Streich der zweiten Liga. Mit ihm hat sich der Verein etabliert. Und zwar ohne Kraftakt, ohne sich jetzt ganz viel Geld zusammenzupumpen und größenwahnsinnig zu werden. Das ist einfach eine Erfolgsgeschichte, die ganz ungewöhnlich ist und auf die ich sehr neugierig bin. Deshalb hoffe ich, dass es der Verein in die Bundesliga schafft.