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Fußball: 20 Jahre "Meister der Herzen": Als Schalke vom Himmel in die Hölle fiel

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20 Jahre "Meister der Herzen": Als Schalke vom Himmel in die Hölle fiel

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    Nicht zu fassen: Die Schalker Spieler Radoslav Latal, Marco van Hoogdalem, Ebbe Sand und Niels Oude Kamphuis nach der "Meisterschaft der Herzen".
    Nicht zu fassen: Die Schalker Spieler Radoslav Latal, Marco van Hoogdalem, Ebbe Sand und Niels Oude Kamphuis nach der "Meisterschaft der Herzen". Foto: Witters

    An den 19. Mai 2001 hat Oliver Wurm noch lebhafte Erinnerungen. Als junger Sportreporter saß er an diesem Tag auf der Pressetribüne des Hamburger Volksparkstadions, wo der HSV den FC Bayern empfing. Den Münchnern genügte an diesem letzten Spieltag ein Unentschieden, um deutscher Meister zu werden. 350 Kilometer südwestlich hoffte Wurms Bruder, ein eingefleischter Schalke-Fan, im Gelsenkirchener Parkstadion auf eine Bayern-Niederlage und einen Sieg von S04. Das wäre gleichbedeutend mit der ersten Meisterschaft seit 1958 gewesen.

    Wurm erinnert sich 20 Jahre später an diesen Tag: "Schalke hatte gerade das 5:3 gegen Unterhaching gemacht, die 90. Minute brach an. Ich stand mit meinem Bruder im Dauer-Telefon-Kontakt." Mobiles Internet und Live-Ticker für jedermann gab es damals noch nicht. "Als wir auflegten, stand es in Hamburg 0:0. Und ich hatte meinem Bruder zuvor gesagt: Hier passiert noch was. " Und wie.

    Schalke war vier Minuten und 38 Sekunden Meister - dann kam Andersson

    Was folgte, war das spektakulärste Finish der Bundesliga-Geschichte: Sekunden nach dem Ende des Telefonats geriet der FCB in Rückstand. Die Bayern haben verloren, Schalke ist Meister – weil sich in Gelsenkirchen diese Falschinformation verbreitete, startete die kürzeste und traurigste Meisterfeier der Sportgeschichte. Deren Dauer: vier Minuten und 38 Sekunden. So lange dauerte es, bis man in Gelsenkirchen merkte: Bayerns Patrik Andersson hatte tatsächlich noch den Ball zum 1:1 ins HSV-Tor gehämmert. Das Parkstadion wurde innerhalb von Sekunden zum Tränenmeer.

    Die "Fünf-Minuten-Meisterschaft" jährt sich nun zum 20. Mal. Wurm hat diesem Spiel ein eigenes Heft gewidmet: In der Reihe "Mehr als ein Spiel" seines Verlags Fußballgold ist vor kurzem das Heft zu diesem Ereignis erschienen. Auf 46 Seiten geht es um jene Partie, die wie keine andere das Schalker Dilemma von der glücklosen Suche nach der Meisterschale beschreibt. Anhand von Gesprächen mit dem damaligen Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld, Schalkes Gerald Asamoah, dem Schiedsrichter Markus Merk oder anderen Beteiligten zeichnet Wurm nach, was sich an diesem Nachmittag ereignete – und wie die Geschehnisse teilweise bis heute prägend sind.

    Am Ende nur Vizemeister: Der FC Schalke in der Saison 2000/01.
    Am Ende nur Vizemeister: Der FC Schalke in der Saison 2000/01. Foto: Witters

    Bei Gerald Asamoah kamen die Tränen erst am Montagmorgen

    Wurm ist vor allem vom Interview mit Gerald Asamoah beeindruckt: "Es hat lange gedauert, bis wir ihn dazu bekamen, mit uns über das Spiel zu sprechen." Herausgekommen sei ein Gespräch, in dem der heutige S04-Teammanager eindringlich über seine Erlebnisse sprecht. "Er hat uns erzählt, wie er am Montagmorgen – eineinhalb Tage nach Spielende – in seinem Bett aufgewacht ist und erst dann realisiert hat, was passiert ist. Dann sind ihm die Tränen heruntergelaufen." Andere Texte befassen sich damit, wie die Zitate der Protagonisten bis heute prägend im Sprachgebrauch sind: von Oliver Kahns "Weiter, immer weiter" oder "Da ist das Ding" bis zu Rudi Assauers Klage, er habe den Glauben an den Fußball-Gott verloren. Für Wurm ist das Gesamt-Paket "ein Beispiel dafür, was der Fußball bewegen und welche Größe er entwickeln kann".

    Stellt sich angesichts der aktuellen Situation der Schalker nur die Frage, was nun eigentlich schlimmer wiegt: die Meisterschaft auf so schmerzhafte Wiese verpassen – oder in einer anderen Saison sang- und klanglos absteigen? Wurm sieht den Abstieg als schmerzhafter an, auch wenn beide Dinge nur schwer miteinander zu vergleichen seien: "Daran wird Schalke noch länger zu knabbern haben. Für den Verein brechen nun viele harte Jahre an."

    Perfekt: Nach der Niederlage in Bielefeld ist Schalke 04 zum vierten Mal in der Club-Geschichte abgestiegen.
    Perfekt: Nach der Niederlage in Bielefeld ist Schalke 04 zum vierten Mal in der Club-Geschichte abgestiegen. Foto: Friso Gentsch, dpa

    Wäre Schalke nicht abgestiegen, wenn Sie vor 20 Jahren Meister geworden wären?

    Sind die "Meisterschaft der Herzen" und der Absturz in dieser Saison miteinander verknüpft? Wurm kann sich das vorstellen. "Wenn Schalke mit dem letzten Spiel im alten Parkstadion Meister geworden wäre – wer weiß, wie sich der Verein dann entwickelt hätte. Sie wären dann die Nummer eins in Deutschland gewesen." Die neu gebaute Arena auf Schalke war damals, fünf Jahre vor Eröffnung der Münchner Allianz Arena, das modernste Stadion der Republik. Trotzdem schien seitdem für alle hoffnungsvollen Jugendspieler aus der Schalke-Kaderschmiede klar zu sein: Wer die Schale haben will, muss Schalke verlassen. Wurm kann sich vorstellen, dass man heute ein anderes Schalke hätte, wenn Andersson damals nicht zum Ausgleich getroffen hätte: "Manuel Neuer stand damals als Jugendlicher in der Kurve. Der Glaube, dass du mit diesem Verein Meister werden kannst, wäre damals jedenfalls nicht zerborsten, sondern gefestigt worden. Und damit wären einige Spieler wohl eher geblieben."

    Ansonsten glaubt Wurm, dass viele Schalker mittlerweile ihren Frieden mit der Sache gemacht haben. Erstaunlich sei es schon damals gewesen, wie souverän Fans und Verein damals mit der Situation umgegangen seien. "Es gab wenig Anklagendes, keine Randale oder so was. Klar ist in der Erinnerung viel Schmerz dabei. Aber da klingt auch ein bisschen Stolz mit, mit diesem irren Spiel ein Stück Fußballgeschichte geschrieben zu haben."

    Oliver Wurm
    Oliver Wurm

    "Mehr als ein Spiel: Vier Minuten im Mai" kostet 7 Euro (plus 2,90 Euro Versand) und ist unter fussballgold.de bestellbar.

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