Wer sich von der Einmündung der Brent in die Themse in den Kern des Londoner Stadtteils Brentford bewegt, dem fallen sofort die vielen Neubauprojekte auf. Moderne Backsteinbauten sprießen wie Pilze aus dem Boden. Es ist eine von vielen Maßnahmen, um einen wegen seiner industriellen Vergangenheit und des Fluglärms lange verschmähten Stadtteil zu beleben. Ein wichtiges Vorhaben nennt sich „Brentford Project“, direkt an der High Street, die zum Community Stadium von Brentford führt, in dem das deutsche Frauen-Nationalteam das EM-Auftaktspiel gegen Dänemark (Freitag 21 Uhr/ZDF) bestreitet. Die 17.000 Plätze bietende Heimstätte des englischen Erstligisten FC Brentford ist vor zwei Jahren eigens an zentraler Stelle zwischen Bahngleise und Hochhäuser gezwängt worden, um das Zusammenwachsen im Westen von London zu fördern.
Alles in allem gibt es kein besseres Sinnbild, denn auch die DFB-Fußballerinnen befinden sich in einem Prozess. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg arbeitet gewissermaßen an ihrem eigenen „Brentford Projekt“, weil auch das zweite Gruppenspiel gegen Spanien (12. Juli) hier stattfindet. Dann gibt es einen Wegweiser, ob es für den achtfachen Europameister früh nach hause geht – wovon mal keiner ausgeht – oder ins Viertelfinale gegen eine Mannschaft aus der England-Gruppe.
Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg sieht EM-Spiel gegen Dänemark als "große Aufgabe"
Vorerst gilt der Fokus dem ersten EM-Duell gegen den Vize-Europameister von 2017 – zugleich das 500. Länderspiel der DFB-Frauen. „Es wird Zeit, dass es losgeht. Wir wollen alles raushauen, was wir haben“, sagte Voss-Tecklenburg am Donnerstagabend in der Pressekonferenz. Ihre „große Vorfreude“ wird gesteigert, indem das Stadion ausverkauft ist, 1500 deutsche, 1300 dänische Fans haben Karten erworben, „den englischen Teil wollen wir auf unsere Seite ziehen“, sagte die viel Optimismus ausstrahlende 54-Jährige. Zwar möchte sie zu „70 Prozent auf uns, zu 30 Prozent“ auf den Gegner schauen, dem indes ungeachtet der internen Querelen zwischen den Starspielerinnen Pernille Harder und Nadia Nadim der Respekt gilt: „Dänemark hat ein mental starkes Teamgefüge. Es wird eine große Aufgabe für uns.“
Mit dem verlorenen EM-Viertelfinale vor fünf Jahren gegen die Skandinavierinnen muss sie sich nicht beschäftigen; der Reinfall im Regen von Rotterdam fiel nicht in ihren Verantwortungsbereich. Wer sie beim Training auf dem Gelände des Grashoppers Rugby Football Club erlebte, sah eine hochkonzentrierte Fußballlehrerin. Mal steckte sie eine Stange in den Rasen, mal fuhr sie sich bei einem Windstoß durchs Haar, aber die meiste Zeit beobachtete sie aufmerksam. Anders als bei der WM 2019 hat sie das Gefühl, dass sie jetzt weiß, was jede einzelne leisten kann. In Frankreich habe sie ihren Kader „unbewusst überfordert.“
Das Mittelfeld der DFB-Frauen bei der EM gilt als bester Teil der deutschen Mannschaft
Seit dem einzigen Testspiel gegen die Schweiz (7:0) ist die Startelf klar. Vor Torhüterin Merle Frohms dirigieren die lange verletzte Marina Hegering und die gereifte Kathrin Hendrich die Viererkette. Der angekündigte aktive Spielstil macht deshalb Sinn, weil das Ensemble seine Stärken sicherlich am ehesten in der Vorwärtsbewegung ausspielt. Das Mittelfeld gilt als bester Mannschaftsteil: Lena Oberdorf, Lina Magull und die nach ihren Muskelbeschwerden einsatzfähige Sara Däbritz haben Führungsaufgaben beim VfL Wolfsburg, FC Bayern bzw. Paris St. Germain inne gehabt – da kann diese Troika doch sicher nun voranzugehen.
Vorne versuchen Svenja Huth und Klara Bühl die Mittelstürmerin Lea Schüller in Position zu bringen; sollte die Bayern-Angreiferin Ladehemmung haben, sitzen noch Kapitänin Alexandra Popp, Frohnatur Laura Freigang und Talent Jule Brand draußen. „Unsere Stärke ist, dass wir uns nicht von ein oder zwei Torjägerinnen abhängig machen müssen“, betont die Bundestrainerin. Das war früher anders, als die bei jeder Trainingseinheit mitmischende Teampsychologin Birgit Prinz noch aktiv war.
Zu Wort gemeldet hat sich eine andere Galionsfigur aus den glorreichen Zeiten. Silvia Neid, die im Rückblick fast unfassbare Erfolge als Spielerin und Trainerin einsammelte, hat in einem DFB-Interview über die deutsche Elf gesagt: „Für mich gehört sie zu einer der Top-Favoriten auf den EM-Titel.“ Es stimme zwar, so die im Scoutingbereich arbeitende 58-Jährige, „dass wir nach den Viertelfinal-Aus‘ 2017 und 2019 inzwischen die Vormachtstellung verloren haben“, dennoch gelte: „Wir haben eine sehr gute Mannschaft, einen guten Mix aus Erfahrung und jugendlicher Unbekümmertheit.“ Hörte sich so an, als solle niemand an der raschen Fertigstellung des „Brentford Project“ zweifeln, auch wenn das vor Ort noch anders aussieht.