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Interview: Marcel Reif: "Oliver Kahn glaubte nur, den FC Bayern zu kennen"

Interview

Marcel Reif: "Oliver Kahn glaubte nur, den FC Bayern zu kennen"

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    Marcel Reif sieht den FC Bayern am Beginn einer Zeitenwende.
    Marcel Reif sieht den FC Bayern am Beginn einer Zeitenwende. Foto: Valeria Witters, Witters

    Herr Reif, haben Sie den FC Bayern schon mal in einem derart desolaten Zustand erlebt?

    Marcel Reif: Die Gnade der frühen Geburt führt dazu, dass ich ehrlicherweise sagen muss: Ja. Auch wenn vieles in der Rückschau verblasst und das Aktuelle Purzelbäume schlägt.

    Wenn es um die letzten großen Krisen dieser Art geht, führen manche die Klinsmann-Zeit an, andere den Abstiegskampf mit Sören Lerby. Aber ist das überhaupt noch vergleichbar in einer Zeit, in der der FC Bayern der Bundesliga eigentlich entwachsen zu sein scheint?

    Reif: Die Fallhöhe ist jetzt schon noch größer geworden. Es ist schwierig und müßig, das Jetzt mit dem Früher zu vergleichen. Aber eines ist sicher: Der jetzige Trubel muss sich in der langen Bayern-Historie vor nichts verstecken.

    Einer der Kritikpunkte lautet: Der Kader sei zu schlecht. Aber bei den Marktwerten gibt es weltweit nur zwei Teams, die höher notiert sind. Das passt doch nicht zusammen?

    Reif: Ich habe vor gar nicht so langer Zeit gesagt, dass das mit der beste Kader ist, den es auf der Welt gibt. Und dabei bleibe ich weitestgehend. Er ist in der Breite und Qualität her überragend, hat aber Löcher. Und diese Löcher sind entscheidend. Dass es keinen Mittelstürmer braucht, war eine Fehleinschätzung. Das war eine Modeerscheinung, die man nicht zuletzt dem Ex-Trainer Guardiola aus Barcelona-Zeiten zu verdanken hat. Die Sechser-Position und der Glaube, dass das Kimmich oder Goretzka schon hinbekommen, ist ein weiterer Fehler. Manuel Neuers Skikünste haben die Situation auch nicht verbessert und dabei will ich Yann Sommer gar nicht in die Verantwortung nehmen. Aber ein eingespieltes Team mit Neuer ist ein anderes als eines ohne.

    Hasan Salihamidzic hatte zuletzt gesagt, dass man die Kaderplanung mit Ex-Trainer Nagelsmann gemacht habe und diese nun überdenken wolle. Macht es sich Salihamidzic, der ja selbst der Kaderplaner ist, damit nicht zu leicht?

    Reif: Natürlich kann er sich da nicht rausnehmen. Kahn und er haben das mit dem Trainer gemacht. Aber wenn wir jetzt fragen, wer die Schuld trägt, dann machen wir einen Fehler. Wer kann sich denn überhaupt aus der Verantwortung rausnehmen? Die Frage ist schneller beantwortet: Ich sehe jedenfalls keinen. Natürlich wird ein Kader auf den Trainer zugeschnitten. Wo ist das denn nicht so? Vielleicht in der sechsten Liga. Sie waren alle beim FC Bayern doch am Anfang "schockverliebt" in ihren Julian Nagelsmann – und wir Journalisten übrigens ebenso. Auch wir fanden die Idee mit ihm doch richtig gut und wir haben ihm geglaubt, als er gesagt hat: Mit Coman, Mané, Sané, Gnabry und ohne Lewandowski – das krieg ich hin.

    Die Zweifel an Kahn und Salihamidzic werden offenbar immer größer. Wer hat denn Schuld?

    Reif: Es geht nicht um Schuld. Es geht um die Versetzung, um die Frage: Wer führt denn diesen Verein in die Zukunft? Und die Zukunft fängt jetzt an. Du musst jetzt einen Mittelstürmer holen und den kriegst du in der Qualität, wie ihn der FC Bayern benötigt, nicht für unter 100 Millionen. Es war unter Uli Hoeneß noch undenkbar, solche Summen auszugeben. Und die Frage ist jetzt: Bin ich bereit, dieses Geld in die Hand zu nehmen und das Spiel mitzuspielen – oder lasse ich das sein und schrumpfe dann allerdings diesen Verein? Klar kann man sagen: Wir machen diesen Wahnsinn nicht mit. Aber dann bist du spätestens im Viertelfinale der Champions League raus. Der FC Bayern steht vor einer Zeitenwende. Wie führt man den Klub in die nächste Zeit und wie soll diese aussehen? Ich bin da sehr gespannt auf die nächste Mitgliederversammlung. Die Frage ist, ob die handelnden Personen das im Kreuz und das Charisma haben. Es geht nicht darum, ob man jetzt halt mal den Trainer rausgeworfen hat, es geht um viel mehr. Es ist der nächste Schritt zum Superklub.

    Aber mit der jetzigen Transferstrategie hat es doch auch geklappt, einen der wertvollsten Kader der Welt zusammenzustellen.

    Reif: Ja, aber die Zeiten haben sich geändert. Wer verkauft dir denn heute noch einen Bellingham für unter 100 Millionen, einen Kolo Muani, einen Osimhen, von Mbappé ganz zu schweigen? Die Hoffnung, dass sich mit dem Bayern-Campus ein Musiala nach dem anderen im Kader wiederfindet, hat sich auch nicht bewahrheitet. Das geht auf dem Niveau nicht. Und das Weiterkommen gegen Paris hat die Sache eher noch erschwert. Denn dieser – dabei bleibe ich – wirklich starke Kader hat gegen PSG einen Höhepunkt geliefert, der letztlich die Sichtweise auf die Realität verstellt hat. Dass man es mit den eigenen Bordmitteln gegen die Geldhaie aus Paris oder Manchester schafft, ist eine romantische Idee. Das hat zwar lange geklappt, ist jetzt aber nicht mehr genug. Das muss einem nicht gefallen, aber es ist die Realität.

    Wie groß ist Ihrer Sicht nach der Einfluss von Uli Hoeneß?

    Reif: Groß. Aber es ist ja auch gut so. Das gibt es doch nur in Deutschland oder Frankreich, dass Leute mit Anfang oder Mitte 60 in Zwangsrente gehen müssen. Ich gönne das jedem, aber oft geht da extrem viel Expertise verloren. Die Bayern wären doch verrückt, wenn sie seine Meinung nicht anhören würden. Was wir nicht wissen: Zieht er denn noch Strippen, taktiert er innerhalb des Vereins? So wie in den Zeiten, als Hoeneß und Rummenigge den Klub gegeneinander – und das meine ich auch so – zu großem Erfolg geführt haben. Auch er kann sich nicht aus der Verantwortung nehmen, auch er fand das doch super mit Salihamidzic und Kahn.

    Hoeneß hat sich eigentlich schon zurückgezogen, ist aber immer noch der starke Mann im Hintergrund. Ist es nicht problematisch, wenn jemand faktisch das Sagen hat, der nicht loslassen kann oder will?

    Reif: Der Kern dieser Frage dreht sich doch nicht um Hoeneß, sondern um die, die ein Vakuum produzieren. Wenn die Dinge so mit Hoeneß` Lebenswerk laufen – dann wäre es doch Wahnsinn, wenn er sich nicht einmischen würde. Oliver Kahn hat möglicherweise festgestellt, dass er nur glaubte, den Klub wirklich zu kennen. Aber wenn du in der Verantwortung bist, höchst sensible Mitgliederversammlungen veranstalten, den Kader bauen und nach innen und außen führen musst – dann stellst du wahrscheinlich fest, dass das ein anderer Job ist als der, der weltbeste Torhüter auf dem Platz zu sein.

    Aber wer außer Kahn soll denn dieses Vakuum ausfüllen? Hoeneß gibt es nicht zweimal.

    Reif: Das ist die Königsfrage. Den zweiten Hoeneß wird es aber geben müssen. Oder man redimensioniert den Klub, macht alles eine Nummer kleiner und gibt bescheidenere Ziele aus. Dann fallen uns viele Kandidaten ein. Aber es kann auch sein, dass sie es Kahn und Salihamidzic weiter zutrauen. Die Bayern werden die Saison überleben. Aber sie wissen, dass sie an einer entscheidenden Kreuzung stehen. Das ist längst kein reiner Fußballklub mehr, sondern ein Wirtschaftsunternehmen mit einer immensen Größe und Wucht. Dafür braucht es fähige Manager.

    Wer tut sich das denn an? Rummenigge und Hoeneß haben riesige Fußstapfen hinterlassen, bei denen alle Nachfolger erstmal nur verlieren können.

    Reif: Wenn Sie durchs Museum der Bayern gehen, müssen Sie eine Sonnenbrille anziehen, weil es da so blendet, dieses ganze Silber aus Titeln und Pokalen. Und das haben die beiden vor allem geholt – zuerst als Spieler, dann in verantwortlicher Position. Es war klar: Der Nächste, der hier kommt, muss viele Liegestütze machen.

    Welchen Eindruck machte Thomas Tuchel zuletzt auf Sie? Nach dem Spiel gegen Mainz wirkte er resigniert, beklagte fehlende Energie.

    Reif: Er ist authentisch. Ich glaube, dass er tatsächlich entsetzt darüber ist, was diese Mannschaft derzeit im Kopf und den Beinen hat. Das beschädigt ihn aber nicht, sondern wird seinen Spielraum enorm erweitern. Diese Macht, den Kader auf Höchststand zu bringen, hatte zuletzt Guardiola. Sie werden sich auch von manchen Spielern trennen, einige sind überschätzt oder es ist was passiert. Beispiel Sadio Mané: Jeder hatte diesen überragenden Spieler aus Liverpool vor Augen, es war die reine Freude. Dann verletzt er sich, verpasst die WM und für ihn platzt ein Lebenstraum. Es ist menschlich, dass man aus so einer Phase nicht rauskommt. Aber wenn man ihm heute zusieht, denkt man, er hat seinen untalentierten Cousin geschickt. Oder wie bei Leon Goretzka die Luft raus ist! Bei einem Spieler, der derart von seiner Dynamik lebt. Machen wir es uns leicht und sagen: Es stimmt im Kopf nicht mehr. Und wahrscheinlich haben wir damit recht.

    Wie sehen Sie die Rolle von Thomas Müller? Er ist Bayern-Ikone, wird aber dieses 34 Jahre alt – und wenn er auf der Bank sitzt, ist das immer ein Problem für jeden Trainer.

    Reif: Die entscheidende Frage ist, wie er selbst seine Rolle sieht. Für die Klubs geht es immer wieder darum, wie man mit den Altmeistern umgeht und was diese dir noch geben können. Es handelt sich ja auch nicht um ein Gnadenbrot. Müller gibt der Mannschaft ja noch immer wieder wichtige Impulse – dass das aber nicht mehr regelmäßig und nicht mehr als unumstrittener Stammspieler passiert, ist auch klar. Wird Müller eine solche Verabredung akzeptieren? Im Idealfall lösen das Trainer, Spieler und Verein auf eine Art, dass wir beide gar keinen Raum hätten, darüber groß zu diskutieren.

    Julian Nagelsmann scheint das Aus bei den Bayern kaum belastet zu haben, Gerüchte um einen neuen Job tauchten nur Tage nach seinem Aus auf. Ist der Bayern-Job zu früh für ihn gekommen?

    Reif: Das Projekt der Bayern mit Nagelsmann war eine Frühgeburt. Man dachte, das wird sich entwickeln, gab sich einen Fünfjahresplan. Aber es hat sich nicht entwickelt. Der FC Bayern ist kein Projektklub, sondern "muss" in jeder Saison das Triple gewinnen. Ich bin selbst in einem Alter, in dem ich weiß: Du musst für gewisse Dinge erwachsen ein. Mann muss auch mal ins Kissen heulen, das ist Nagelsmann gerade passiert. Er wird mal einer der besten Trainer der Welt sein, da bin ich mir sicher. Aber bei den Bayern hat ihm manches Werkzeug gefehlt. Das muss er sich holen. Und eines davon ist eben der Rausschmiss bei den Bayern.

    Hätten die Bayern ihm dieses Werkzeug nicht geben können, indem sie ihn mehr unterstützten?

    Reif: Das ist etwas, was sich Kahn und Salihamidzic fragen lassen müssen: Haben wir nicht genau hingehört? Und, als die Probleme anfingen, haben wir ihn von Beginn an mit der richtigen Verve unterstützt? Dass Nagelsmann plötzlich keine Lust mehr hatte, ein Supertrainer zu sein – das alleine kann es doch nicht gewesen sein.

    Zur Person: Der 73-jährige Marcel Reif spielte als Jugendlicher beim 1. FC Kaiserslautern. Für das ZDF, RTL und Sky berichtete Reif als Kommentator und Reporter von zahlreichen Fußballspielen. 

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