Im Vokabular von Spielerberatern gibt es für jeden Transfer eine Erklärung: Wird der Wechsel zu einem größeren Klub meist als "nächste Herausforderung" tituliert, werden überraschendere Vereinswechsel als "horizontale Entscheidungen" bezeichnet. Soll heißen: Auch ein Schritt zur Seite kann einer nach vorne sein. (Für den Berater fließt natürlich bei jedem Transfer eine Provision, egal ob horizontal oder vertikal.)
Auf jeden Fall unerwartet ist der nächste Karriereschritt von Niklas Süle: Nachdem der 26-Jährige ein Angebot des FC Bayern auf Vertragsverlängerung ausgeschlagen hatte, wird sein nächster Verein nicht etwa ein neureicher Klub aus England sein, sondern Borussia Dortmund.
Bei den Westfalen unterschrieb der Nationalspieler einen Vierjahresvertrag – und die Erklärungsversuche dafür schossen alsbald ins Kraut. Auf sozialen Medien war sowohl das Erstaunen über den Wechsel groß ("Wollte Süle nicht zu einem Top-Klub?") als auch die Kreativität dafür, den Transfer zu erklären. Einer machte die Vertragsunterschrift des erklärten Fast-Food-Fans Süle an der Filialdichte einer bekannten Schnellrestaurantkette fest: Nirgendwo gibt es bundesweit mehr Burger-Filialen als im Dortmunder Stadtgebiet.
Bayern-Präsident Hainer über Süle: "Kein sportlicher Aufstieg"
Innerhalb der Bundesliga hat der Transfer vielleicht kein Erdbeben, wohl aber eine Erschütterung der Macht ausgelöst. Den Verantwortlichen des FC Bayern ist die Verwunderung über die Personalie anzumerken. Präsident Herbert Hainer etwa, sonst ein Mann der diplomatischen Schule, sagte bei einem Termin der Basketball-Mannschaft des FCB, dass er zwar nicht wisse, "was der Niklas Süle für ein Gehalt kriegt bei Dortmund", sehr wohl aber, wie es um die sportlichen Verhältnisse bestellt sei: "Ich glaube nicht, dass es ein sportlicher Aufstieg ist."
Das mag stimmen – sonderlich höflich ist so eine Aussage jedoch auch nicht. Sie passt aber zum schwierigen Verhältnis, das die Klubführung zu ihrem Angestellten Niklas Süle pflegte. Dessen Berater Volker Struth hatte zuletzt erneut die mangelnde Wertschätzung angeprangert, die Süle im Klub erfahren hat, und dürfte dabei Aussagen wie die von Ex-Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge gemeint haben, wonach Süle "ein brauchbarer Spieler" gewesen sei – mehr aber auch nicht. Dass die Wahrnehmung Süles innerhalb der Mannschaft und des Trainerteams eine völlig andere ist, könnte hingegen in den kommenden Monaten Anlass für Konflikte sein.
Denn nicht nur Kapitän Manuel Neuer hatte sich entschieden gegen die Aussagen Rummenigges gestellt und beklagt, dass der Transfer in der Mannschaft "alle nervt". Auch Trainer Julian Nagelsmann, der Süle als Jugendspieler in Hoffenheim kennenlernte, betonte, dass er gerne weiter mit ihm zusammengearbeitet hätte. Beim Heimsieg gegen Leipzig am Wochenende etwa stand Süle 90 Minuten auf dem Platz, während der zu Saisonbeginn für 42,5 Millionen Euro geholte Dayot Upamecano erst eine Viertelstunde vor Ende eingewechselt wurde.
Süles Leistungen könnten für seinen Nachfolger zur Hypothek werden
Süles gute Leistungen könnten auch für einen etwaigen Nachfolger zur Hypothek werden – vor allem, wenn dieser gegen viel Geld aus dem Vertrag herausgelöst werden muss. Süle, der 2017 für 20 Millionen Euro aus Hoffenheim gekommen war, geht hingegen ohne Ablöse. In Zeiten von Corona und sinkenden Einnahmen ist das ein weiteres schmerzhaftes Detail für die Bayern, die schon in der vergangenen Saison David Alaba zum Nulltarif hatten ziehen lassen müssen.
Für Mats Hummels werden wohl harte Zeichen einbrechen
Für die Dortmunder ist der Transfer eine eindeutige Aufwertung der löchrigen Defensive. Denn Süle, der aktuell die besten Zweikampfwerte der Bundesliga aufweist und deutlich kopfballstärker als das aktuelle Innenverteidiger-Duo Mats Hummels und Manuel Akanji ist, wird als neuer Abwehrchef kommen. Sehr wahrscheinlich werden bei seinem Eintreffen harte Zeiten für Mats Hummels anbrechen, dem in großen Spielen wie jüngst gegen die Bayern immer mal wieder große Fehler unterlaufen und der im Vergleich zu Süle einen riesigen Nachteil hat: den Antritt. Während Hummels noch nie als schneller Spieler galt, scheint Süle, der mit 100 Kilogramm und 1,95 Metern erstaunlich agil ist, besser ins Pressing-System von BVB-Trainer Marco Rose zu passen.
Süle selbst scheint sich auf seinen Arbeitsstart in Dortmund zu freuen, wie er der Bild sagte. Er habe das Gefühl bekommen, "als Mensch und als Fußballer gewollt zu werden". Emotional gesehen scheint der Transfer für ihn also ein Schritt nach vorne zu sein – ob nun vertikal oder horízontal.