Das Vorurteil, wonach es sich beim Münchner Publikum um eine allzu verwöhnte Zuschauerschar handelt, trifft ja schon seit beinahe zwei Jahrzehnten nicht mehr zu. Als die Bayern noch im Olympiastadion spielten, galten die Fans vollkommen zu Recht als Rosinenpicker. Uli Hoeneß musste mit Freikarten hausieren gehen, um gegen Homburg, Blau-Weiß 90 Berlin oder Mannheim wenigstens jeden zweiten Platz der weitläufigen Ränge zu besetzen. Mit dem Umzug in die Fröttmaninger Heimat waren fortan sämtliche Spiele ausverkauft. Nicht einmal ein Paderborner Gastspiel hielt in der Vergangenheit die Zuschauer von einem Besuch des Stadions ab.
Viel mehr als verwöhnt sind die Münchner Anhänger als kenntnisreich zu bezeichnen. Wo andernorts eine Grätsche auf Höhe der Mittellinie zu mächtigem Applaus führt, darf es in der Allianz-Arena gerne ein bisschen mehr sein. Zu bedingungsloser und voraussetzungsfreier Hingabe sind die Fans nur in Ausnahmefällen fähig. Achtelfinalaufwärts in der Champions League beispielsweise. Oder aber wenn Borussia Dortmund gastiert.
FC Bayern gegen den BVB: Ein Hochfest des Fußballs
Dann verwandeln sich Banker, Controller und Juristen von Anpfiff an in eine schreiende Masse. Bayern gegen Dortmund ist das Hochfest des deutschen Fußballs. Eines, das in der diesjährigen Ausgabe aber anders begangen wird als in all den Ausgaben. Zuschauer sind im Stadion selbstverständlich nicht zugelassen. "Daran kann man sich nicht gewöhnen", sagt Bayerns Trainer Hansi Flick auch noch ein Jahr nachdem sein Team das (letzte Bundesligaspiel vor Fans bestritten hat. Fans würden Energie freisetzen, so der Coach.
Bisher kamen die Münchner auch ohne die Schubkraft von der Tribüne gut durch die Krise. Besser als alle anderen Bundesligisten. Auch wenn es in der Defensive immer noch knirscht, stehen die Münchner als Tabellenführer zwei Punkte vor ihrem ärgsten Verfolger. Als solcher hatten sich die Dortmunder über ein Jahrzehnt verstanden. Sie waren es, die die Bayern durch die Meisterschaften 2011 und 2012 zu Großtaten angespornt haben.
Borussia Dortmund hinkt den Ansprüchen hinterher
Derzeit aber rangieren sie auf Platz fünf, 13 Zähler hinter den Münchnern, und selbst die Qualifikation für die Champions League ist in Gefahr. Mögen die Ergebnisse der vergangenen Wochen die Verantwortlichen auch optimistisch stimmen: Der BVB hinkt seinen Ansprüchen hinterher und von einem wirklichen Spitzenspiel zu sprechen verbietet sich nach einem kurzen Blick auf die Tabelle. Noch dazu müssen die Dortmunder möglicherweise auf die angeschlagenen Jadon Sancho und Raphael Guerreiro verzichten – zwei der besten Borussen.
Keine Zuschauer, kein Spitzenspiel, fehlende Stars. Trotzdem bleibt Flick bei seiner Meinung: „Spiele gegen Dortmund sind immer etwas Besonderes.“ Das trifft im Speziellen auf ihn ihn persönlich zu. Vor 15 Monaten bestritt Flick sein erstes Bundesligaspiel als Interimstrainer der Bayern. Gegen Dortmund. Die zuvor von den Frankfurtern gedemütigten Bayern (5:1) traten ultraoffensiv gegen den BVB an, umstellten den gegnerischen Strafraum bei Abstößen mit fünf Mann und traten mit einem 4:0-Sieg den Weg zurück an die Bundesligaspitze an. Fortan glitten die Münchner monatelang energisch durch sämtliche Wettbewerbe.
Die deutschen Meister seit 1964
1964: 1. FC Köln
1965: Werder Bremen
1966: TSV 1860 München
1967: Eintracht Braunschweig
1968: 1. FC Nürnberg
1969: FC Bayern München
1970 + 1971: Borussia Mönchengladbach
1972 bis 1974: FC Bayern München
1975 bis 1977: Borussia Mönchengladbach
1978: 1. FC Köln
1979: Hamburger SV
1980 + 1981: FC Bayern München
1982 + 1983: Hamburger SV
1984: VfB Stuttgart
1985 bis 1987: FC Bayern München
1988: Werder Bremen
1989 + 1990: FC Bayern München
1991: 1. FC Kaiserslautern
1992: VfB Stuttgart
1993: Werder Bremen
1994: FC Bayern München
1995 + 1996: Borussia Dortmund
1997: FC Bayern München
1998: 1. FC Kaiserslautern
1999 bis 2001: FC Bayern München
2002: Borussia Dortmund
2003: FC Bayern München
2004: Werder Bremen
2005 + 2006: FC Bayern München
2007: VfB Stuttgart
2008: FC Bayern München
2009: VfL Wolfsburg
2010: FC Bayern München
2011 + 2012: Borussia Dortmund
2013 bis 2020: FC Bayern München
Mittlerweile aber können sie den Druck auf ihre Gegner nicht mehr konsequent hochhalten. In jedem Spiel ermöglichen sie es ihrem Gegenüber zumindest kurzzeitig, Kontrolle über das Geschehen zu erlangen. Selbst das letztwöchige 5:1 gegen Köln war nicht ohne Makel. Andererseits verfügen sie eben auch über eine Offensive, die in ihrem Gestaltungswillen und Tordrang zumindest in Deutschland einzigartig ist. Das dürfte auch die kommenden Jahre so bleiben. Dann dürfte auch Jamal Musiala zu jenen Kreativen gehören, die gegnerische Trainer schrecken. Die Münchner gaben am Freitag bekannt, dass der 18-Jährige einen bis 2026 gültigen Profivertrag unterschrieben hat.
Bis dahin wird er auch in einem vollen Stadion vor röhrenden Massen gegen die Borussen spielen. Möglicherweise sogar in einem Spitzenspiel. Dieses Jahr aber ist eben alles anders.
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