63 lange Minuten hatten die Fans in der Allianz-Arena darauf warten müssen, dann war es endlich so weit: Harry Kane, der leibhaftige Harry Edward Kane, geboren und aufgewachsen in London und scheinbar untrennbar mit den Tottenham Hotspurs verbunden, betrat den Rasen als Spieler des FC Bayern München. Schon als Kane nach dem Aufwärmen zur Seitenlinie gelaufen war, war Applaus aufgebrandet, Handys gezückt worden. Es hatte Kane-Sprechchöre gegeben, mit denen die Einwechslung des 30-Jährigen gefordert worden war. Alles schien sich an diesem Abend, als eigentlich das Spiel des deutschen Meisters gegen den Pokalsieger anstand, um Kane zu drehen.
Auch Thomas Tuchel, Trainer des FC Bayern, konnte und wollte seinen Stolz über die Verpflichtung nicht zügeln. Kurz vor dem Spiel sagte er bei Sat.1: "Wir haben den Kapitän der englischen Nationalmannschaft aus der Premier League geholt." Kane habe "das gewisse Etwas, und das wird er hoffentlich unter Beweis stellen". Das klappte am ersten Abend noch nicht: 0:3 hieß es am Ende aus Sicht der Bayern gegen Leipzig. Kane muss weiter auf seinen ersten Titel warten, der Supercup geht erstmals an RB.
Seit der Verpflichtung von Pep Guardiola als Trainer vor zehn Jahren hatte es beim FC Bayern keinen derartigen Hype mehr gegeben. Die Erwartungen an beide waren ähnlich: Ein Messias soll es sein, der da beim FC Bayern angekommen ist. Der große Unterschied: Als Guardiola 2013 an der Säbener Straße anfing, war der Klub ohnehin in Topform, hatte kurz zuvor das Triple gewonnen. Die Erwartungen waren dennoch riesig. "Und jetzt lauf übers Wasser", titelte die SZ damals bei der Vorstellung des Wundertrainers, der dem FC Bayern zwar kein erneutes Triple, aber zeitweise Fußball vom anderen Stern schenkte. Kane soll hingegen eine taumelnde Mannschaft zum Titelkandidat in der Champions League machen.
Der Spanier Dani Olmo wurde statt Harry Kane zum Mann des Abends
Der FC Bayern, dem sich Harry Kane im Sommer 2023 angeschlossen hat, schleppt hingegen sichtlich enorme Probleme mit sich herum. Das war auch zu sehen, als Kane nach einer guten Stunde in die Partie gegen Leipzig kam: Trotz des Rückstands von 0:2 bebte das Stadion, als der Engländer kam. Doch schon Minuten später war jede Hoffnung zunichte, in dieser Partie doch noch etwas zu holen: Einen Handelfmeter verwandelte der Spanier Dani Olmo zum 3:0-Endstand für die Sachsen. Alle Treffer an diesem Abend gingen auf das Konto des Leipzigers (3.,44.,68.), der sich damit zum sportlichen Hauptakteur aufschwang. Vor allem der zweite Treffer war einer der Kategorie "Tor des Monats": Nach der Ballannahme ließ Olmo mit de Ligt und Laimer zwei Bayern elegant aussteigen und schoss dann ein.
Und Kane? Sammelte in seinem ersten Einsatz drei Ballkontakte. Das ist logisch angesichts des Umstandes, dass er nur wenige Stunden geschlafen hat, wie Tuchel verriet und nur eine Trainingseinheit mit der Mannschaft absolvierte. Kane, der 100 Millionen Euro schwere Heilsbringer, wirkte bei seinem kurzen Einsatz menschlich. Und erregte fast schon das Mitleid von RB-Manager Max Eberl, der nach dem Spiel befand: "Es ist schön für die Liga, dass Bayern so einen Megatransfer getätigt hat. Aber ich finde es fast schon zu viel, was Harry Kane hier aufgeladen wird. Das ist wie Messias, der übers Wasser laufen soll."
Kann Harry Kane die Probleme beim FC Bayern lösen?
Das Spiel gegen Leipzig bewies einerseits, wie dringend die Bayern Kane brauchen. Trotz vieler Chancen landete mal wieder kein Ball im Tor, vor allem der 18-jährige Mathys Tel vergab mehrere beste Gelegenheiten. Sehr wahrscheinlich hätte Kane mindestens einmal schon Grund zum Jubeln gehabt. Andererseits kann auch Kane nicht alle Probleme der Bayern beheben. Die Schwachstellen gegen Leipzig sind irritierenderweise ähnliche wie in der vergangenen Saison: Vorn gehen die Bälle trotz spielerischem Übergewichts nicht ins Netz, während in der Defensive vieles zu anfällig ist.
Bayern-Trainer Tuchel: "Fühlt sich an wie eine Fortsetzung der vergangenen Saison"
Es schien, als wären die Bayern nach ihrer Sommervorbereitung mit Thomas Tuchel, einigen Neuzugängen und einem neuen Start schon bedeutend weiter. Das musste auch Tuchel selbst auf der Pressekonferenz zerknirscht zugeben: "Es fühlt sich an wie eine Fortsetzung der vergangenen Saison. Wir waren auf einem ganz anderen Weg." Um Kane tue es ihm leid: "Wir haben nicht genug Chancen für ihn kreiert." Dabei fußt die Hoffnung, aus diesem "Unglückskreis", wie Tuchel es nannte, herauszukommen, derzeit wohl vor allem auf Kane: "Er wird uns helfen, da wieder rauszukommen." Fast peinlich schien Tuchel die Leistung seiner Mannschaft vor Kane zu sein: "Der denkt wahrscheinlich, wir haben vier Wochen nicht trainiert. Das hatte nichts mit dem zu tun, was wir bisher gespielt haben. Nichts mit dem, was wir uns vorgenommen haben."
Offenbar ist das Vertrauen Tuchels in Kane deutlich ausgeprägter als in dem Rest der Mannschaft, weswegen der Engländer von seinem neuen Trainer auch eine Startelfgarantie ausgesprochen bekam: "Es gibt keinen Aufbau, er hat ja die komplette Vorbereitung mitgemacht." Deswegen gilt: "Er spielt jedes Spiel, fertig aus." Die unausgesprochene Hoffnung, die mitschwingt: Und er schießt hoffentlich so viele Tore, damit unsere anderen Schwächen damit überdeckt werden.
Kane selbst hatte es nach dem Spiel eilig, aus der Arena zu kommen und sprach erst am Sonntag bei seiner offiziellen Vorstellung. Darin gab der Kapitän Englands einen exzellenten Markenbotschafter ab. Auf die Niederlage seines neuen Teams angesprochen, sagte Kane: "Wir hatten einen schlechten Start, haben früh ein Gegentor kassiert. Ich versuche jetzt, schnell alle Mitspieler kennen zu lernen, wir haben viele Spieler mit herausragender Qualität." Mit Thomas Müller etwa sei schon eine Golfrunde vereinbart worden. Die Aussicht, mit den Bayern endlich Titel zu gewinnen und eine neue Kultur kennen zu lernen, habe den Ausschlag für den Wechsel gegeben. Der Empfang der Fans sei "fanstastisch" gewesen. Dabei will er der Mannschaft mehr geben als nur Tore: "Mein Stil sieht es nicht nur vor, Treffer zu erzielen." Dass das Finale der Champions League kommendes Jahr in seiner Heimat London stattfindet, sei nicht der schlechteste Anreiz, es in der Königsklasse weit zu bringen: "Es wäre toll, wenn wir das schaffen." Eines ist aber auch klar: Vor den Bayern liegt diesbezüglich noch ein weiter Weg. Auch mit einem Spieler wie Harry Kane im Kader.