4:3 gegen Manchester United zum Auftakt der Champions League – das ist ein Ergebnis, das für den FC Bayern erst mal nach einer runden Sache klingt. Dennoch verzog Thomas Müller das Gesicht, als er nach Spielende zu seinem Fazit gefragt wurde. Nach einigem Abwägen befand der 34-Jährige: "Es war ein komisches Spiel, von A bis Z." Deutlich höher hätte es ausgehen können, "aber wir haben uns von der Trägheit von United anstecken lassen".
Müller gilt als profunder Kenner der Champions League, seit Mittwochabend ist er auch Teil eines elitären Klubs. Seine Einwechslung zur 87. Minute war sein 100. Sieg in der Königsklasse. Damit ist er neben Cristiano Ronaldo (115 Siege) und Torwart-Legende Iker Casillas (101) erst der dritte Spieler, der das geschafft hat. Drei dieser Siege gelangen auch gegen die Red Devils aus Manchester – und fast wirkte es an diesem Abend, als ob die anderen beiden Erfolge in den Spielzeiten 09/10 und 13/14 wertiger waren, weil das mittlerweile dauerkriselnde Manchester damals eben noch eine größere Rolle spielte. Zur Wahrheit gehört aber auch: Auch der FC Bayern war schon einmal mehr der FC Bayern als an diesem Mittwochabend.
Das Spiel schien unter Kontrolle der Bayern – und kippte dennoch hin und her
Denn dass es überhaupt noch einmal spannend wurde, lag auch an dem, was Trainer Thomas Tuchel immer wieder als "Wellenbewegungen" in seinem Team wahrnimmt. Soll heißen: Phasen, in denen der FCB die Kontrolle über Spiel hat, wechseln sich in nahezu jedem Spiel mit Unkonzentriertheiten und unerklärlichen Fehlern ab. Das war beim 2:2 gegen Leverkusen zuletzt zu sehen, aber auch am Mittwoch gegen Englands Rekordmeister: Eigentlich schien das Spiel zur Halbzeit schon entschieden. United-Keeper Onana hatte einen Schuss von Sané (28.) durchrutschen lassen, danach erhöhte Gnabry auf 2:0 (32.). Die Engländer hatten den zu Beginn wackeligen Bayern nichts entgegenzusetzen. Und dennoch scheint es in dieser Saison kaum ein Spiel zu geben, in dem der FCB wie früher alles unter Kontrolle hat.
Den Beleg lieferte die zweite Halbzeit: Hätten die Bayern früher noch humorlos die Luft aus der Partie gelassen, wogte das Spiel nun hin und her. Höjlund verkürzte (49.), Kane traf (53.). Als alles nach einem entspannten Ende aussah, schnürte Casemiro aus dem Nichts einen Doppelpack (88., 90.+5) – und erneut war es dem Joker Mathy Tel und seinem Tor (90.+2) zu verdanken, dass Bayern doch noch drei Punkte holte. So richtig unter Kontrolle schien in diesem Spiel gar nichts zu sein, selbst gegen ein sichtlich mehr mit sich selbst beschäftigtes und eigentlich kaum gefährliches Manchester United. Dass man es sich aber auch auf Bayern-Seite unnötig schwer gemacht hatte, darüber Bestand große Einigkeit. "Ein bisschen wild" sei es gewesen, resümierte der formstarke Leroy Sané. "Wir haben immer wieder Phasen drin, in denen wir es uns selbst schwer machen", sagte der ebenfalls stark aufspielende Jamal Musiala und Sportdirektor Christoph Freund befand: "Es war noch nicht so konstant, wie wir uns das gewünscht haben."
Mathy Tel entwickelt sich immer mehr zur Entdeckung der Bayern-Saison
Dass Freund sich aber dennoch bestens gelaunt zeigte, dürfte mehrere Gründe gehabt haben: erstens den Umstand, dass der FC Bayern mal wieder ein Auftaktmatch in eine Champions-League-Saison gewonnen hat (das 20. insgesamt übrigens) und damit seit 35 Gruppenspielen in der Königsklasse ohne Niederlage ist. Zweitens eben die erneut starke Leistung des gerade mal 18 Jahre alten Mathys Tel. Der Franzose entwickelt sich immer mehr zum Super-Joker der Bayern, lieferte auch diesmal nach seiner Hereinnahme nach 87 Minuten Zählbares mit seinem Treffer. Insgesamt kommt er nun auf drei Tore und eine Vorlage in gerade einmal 121 Saisonminuten, trifft also statistisch gesehen alle 40 Minuten.
Der Teenager, der vor einem Jahr als Stürmer der Zukunft von Stade Rennes gekommen war, wurde mit Lob überschüttet. Sportdirektor Freund, dessen Portfolio die Entwicklung von Talenten vorsieht, sagte: "Der Junge macht uns unglaubliche Freude. Er hat einen super Charakter, eine super Mentalität, in ihm schlummert große Qualität." Torwart Sven Ulreich, mit 35 Jahren kein Fall mehr für den Talentscout, sehr wohl aber mit einem reichhaltigen Erfahrungsschatz ausgestattet, fügte an: "Er ist ein feiner Kerl, er arbeitet an sich und ist wissbegierig. Er ist ein Vorbild für alle Jugendspieler, da hatten wir auch schon andere Beispiele."
Ob Tel in der Königsklasse mal auf die Marke von Müller kommt? Scheint der junge Franzose selbst in der Hand zu haben, sein Vertrag bei den Bayern läuft bis 2027. Zumindest bis 2024 ist das Arbeitspapier von Müller gültig. Wie es danach weitergeht, ist noch offen. Auf seine Marke angesprochen, betonte der Nationalspieler aber: "Ich bin noch nicht fertig!" Wie viele Partien in der Königsklasse in dieser Saison dazukommen, wird auch davon abhängen, wie konstant das Spiel der Bayern noch wird. Andere Gegner dürften Nachlässigkeiten wie die am Mittwochabend härter bestrafen.