Die gute Nachricht vorab: Thomas Tuchel hat Leroy Sané nicht getroffen, bestenfalls touchiert. Beim ersten Training als Bayern-Trainer ermunterte der 49-Jährige seinen Starspieler mit einem angedeuteten Kick dazu, jetzt das Lauftraining aufzunehmen. Nicht auszudenken, wenn Tuchel mit seinem Schwungschlag den Flügelspieler getroffen hätte. Zum einen wäre dann die Anzahl der Feldspieler von elf auf zehn gesunken, zum anderen hätte der 27-Jährige nach dem Training auch nicht die Zeit gehabt, sich in einem längeren Gespräch mit seinem neuen Coach auszutauschen.
Den seit Monaten in einem Formtief steckenden Sané wieder fitzubekommen scheint einer der Ansätze für Tuchel in seinen ersten Tagen als Trainer des deutschen Rekordmeisters zu sein. Minutenlang standen Tuchel und der aktuell nicht für die Nationalmannschaft nominierte Sané am Rand des Platzes zusammen, der Redeanteil des Trainers schien dabei deutlich zu überwiegen. Überhaupt scheint Tuchel viel Bedarf für Gespräche zu sehen. Die für 11 Uhr angesetzte Trainingseinheit verspätete sich um zehn Minuten. "Es geht darum, jetzt ein Gefühl für die Situation zu bekommen", sagte Tuchel bei seiner Vorstellungsrunde am Samstag. Dieses Gefühl bekomme man durch Kommunikation und die Arbeit auf dem Platz.
Der FC Bayern lief mit nur fünf Feldspielern aus dem Profi-Kader auf
Die schlechte Nachricht aus Tuchels Sicht: Die meisten seiner Spieler kann er in seinen ersten Tagen als Bayern-Coach nicht erreichen, weil sie quer über den Globus verstreut sind und für ihre Nationalteams unterwegs sind. So kam es, dass an diesem Dienstagvormittag nur elf Feldspieler dabei waren, als Tuchel erstmals zum Training bat. Davon waren nur fünf Mitglieder der Bundesliga-Mannschaft: besagter Sané, Thomas Müller, Eric Maxim Choupo-Moting, Bouna Sarr und Joao Cancelo. Sechs weitere Kicker durften aus der A-Jugend und der zweiten Mannschaft Profi-Luft schnuppern. Der nach einem Muskelfaserriss angeschlagene Jamal Musiala drehte auf dem Nebenplatz seine Runden. Erst am Freitag wird Tuchel seinen kompletten Kader wieder zusammenhaben. Wenig Zeit also für das Vermitteln seiner Ideen angesichts des Umstandes, dass am Samstagabend der Bundesligagipfel gegen Tuchels Ex-Klub Borussia Dortmund ansteht. "Es kann sein, dass wir am Samstagvormittag noch eine Einheit reinquetschen", hatte der neue Bayern-Coach am Wochenende noch gehofft.
Dass an diesem Tag eine Rumpftruppe ihren Dienst auf dem Trainingsplatz des FC Bayern tat, minderte das mediale Interesse aber keineswegs: Rund dreimal so viel Medienvertreter wie Spieler waren zur Premiereneinheit der Bayern unter Tuchel gekommen und sahen, wie der Ex-Coach von Paris und Chelsea Kurzpassübungen einforderte, immer wieder lautstark wie mehrsprachig korrigierte. Zur Personalsituation passt, dass auch das Trainerteam Tuchels noch nicht komplett ist. Zwar waren seine Assistenten Arno Michels und Zsolt Löw schon mit von der Partie. Der Engländer Anthony Barry, den Tuchel beim FC Chelsea kennenlernte, soll aber als "absolute Wunschlösung" (Tuchel) noch dazukommen und das Team komplettieren.
BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl glaubt nicht an den Tuchel-Effekt
Unterdessen gibt sich der Tabellenführer aus Dortmund vor dem Spitzenspiel selbstbewusst. Sportdirektor Sebastian Kehl sagte in einer Presserunde, dass er keinen nennenswerten Tuchel-Effekt erwarte, schließlich befinde sich der Großteil der Mannschaft nicht in München: "Ich weiß nicht, ob der FC Bayern jetzt am Samstag mit Thomas Tuchel besser sein wird als vorher unter Julian Nagelsmann." Und auch wenn in den letzten Jahren der bayerische Watschenbaum in schöner Regelmäßigkeit über dem BVB zusammengefallen ist - von den jüngsten elf Begegnungen gewann Bayern neun und verlor nur 2019 im Supercup einmal - gibt sich Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke optimistisch. "Wir haben in den vergangenen Monaten zehn Punkte auf die Bayern aufgeholt, unsere Mannschaft kann also zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mit viel Selbstvertrauen nach München reisen", so Watzke in SZ-Interview.
Dass es speziell zwischen Watzke und Tuchel am Ende der zweijährigen Amtszeit des Krumbachers beim BVB arg geknirscht hat, ist ein offenes Geheimnis und trägt zur ohnehin großen Brisanz bei. Tuchel gab sich bei seiner Vorstellung betont gelassen, was das Wiedersehen mit seinem ehemaligen Arbeitgeber angeht: "Die Konstellation mit mir ist nicht so wichtig." Wichtiger sei es schon, dass es sich hierbei um das Spiel schlechthin im deutschen Fußball handle: "Die Herausforderungen könnte nicht größer sein." Bis Samstagabend soll in München alles dafür vorbereitet sein, die Tabellenführung wieder zu übernehmen. Tuchel wird dafür alles tun. Notfalls eben auch treten.