Es gibt diese Szene in der Pressekonferenz des FC Bayern vor dem Champions-League-Spiel beim FC Kopenhagen. Joshua Kimmich wird gefragt, was die Mannschaft eigentlich zu den Problemen sagt, die Jérôme Boateng abseits des Platzes hat. Gegen Boateng, der derzeit gerade zur Probe beim Rekordmeister mittrainiert, läuft ein Verfahren wegen Körperverletzung. Das Landgericht München hatte den 35-Jährigen zuerst für schuldig erklärt und war sich sicher, dass der Ex-Nationalspieler die Mutter seiner beiden Kinder in einem Urlaub 2018 geschlagen, bespuckt und beleidigt habe. Die verhängte Geldstrafe lag bei 1,2 Millionen Euro, was 120 Tagessätzen zu je 10.000 Euro entspricht. Boateng bestreitet das.
Ende September wurde entschieden, dass der Prozess wegen eines Verfahrensfehlers neu aufgerollt werden muss. Kimmich blickt nun an diesem Dienstagabend in Kopenhagen bei der Frage hilfesuchend zu Dieter Nickles, dem Pressesprecher der Bayern. Nickles flüstert auf Kimmich ein, aber recht deutlich ist über die Mikrofone das Wort zu hören, auf das sie sich gerade alle geeinigt zu haben scheinen bei den Bayern: Unschuldsvermutung.
Bei den Bayern werden die Innenverteidiger knapp – das ist Boatengs Chance
Keine Vermutung, sondern eine Tatsache ist, wie es um die Innenverteidigung der Bayern bestellt ist. Mit Dayot Upamecano, Minjae Kim und Matthijs de Ligt stehen nur drei Spieler für zwei Positionen zur Verfügung, von denen beim Pokalspiel in Münster zudem alle drei verletzt waren. Mittlerweile sind zwei davon wieder fit. Der Niederländer de Ligt wird einem Bericht des Kicker zufolge aber noch länger brauchen, um wieder einsatzbereit zu sein. Neue Spieler dürfen erst wieder im Winter verpflichtet werden. Einzige Ausnahme: Wenn ein Spieler gerade keinen Vertrag hat, darf er gleich wieder für einen Klub auflaufen.
Auf Boateng trifft das zu. Der 35-Jährige ist nach zwei Jahren bei Olympique Lyon seit Sommer ohne Vertrag, könnte sofort einsteigen bei dem Verein, für den er elf Jahre lang spielte. Manche sagen: Damit sind Boatengs Argumente auch schon aufgezählt. Denn sportlich waren die beiden Jahre in Frankreich für den Defensivspieler ein einziges Fiasko. In der vergangenen Saison kam er nur auf acht Einsätze beziehungsweise 430 Spielminuten. Dass Boateng einer ist, der den Bayern helfen könnte – da ist nicht nur in Frankreich die Skepsis groß. Raymond Domenech, der zwischen 2004 und 2010 französischer Nationaltrainer war, sagte dazu: "Dass Boateng zu Bayern gehen soll, das ist schon unfassbar."
Für den FC Bayern sind die Vorwürfe gegen Boateng dessen "Privatsache"
So weit der sportliche Aspekt. Und dann kommt eben noch das hinzu, was Bayerns Sportdirektor Christoph Freund noch vor Kurzem als "Privatsache" des Profi-Fußballers bezeichnet hatte: der Umstand, dass Boateng mehreren Frauen im Laufe der Beziehung körperliche und psychische Gewalt angetan haben soll. Bei einer anderen Privatsache war der FC Bayern zuletzt deutlich strenger aufgetreten: Als Serge Gnabry Anfang des Jahres eine private Reise zur Pariser Fashion Week unternahm, zeigte sich der Verein deutlich ungehaltener. War Gnabrys Instagram-Exkurs noch ein Fall für die Klatschspalten, hat der Fall Boateng das Zeug zur Zerreißprobe für einen Verein, der wie kaum ein anderer einen Wertekanon gegen Rassismus, für Pluralität vor sich herträgt.
In Kopenhagen bemühte Freund dann nochmals das Schlüsselwort in dieser Affäre, als er vor den Mikrofonen etwas zur umstrittenen Personalie sagte: "Es gilt die Unschuldsvermutung, es ist kein Verfahren am Laufen." Schlichtweg falsch ist in diesem Zusammenhang der zweite Teil des Satzes, weil eben sehr wohl ein Verfahren gegen den Kicker anhängig ist. Und die Sache mit der Unschuldsvermutung?
Die wird ein Gericht klären müssen. Dass es fachliche Zweifel an der Beweisführung gab, ist aber nicht der Grund dafür, dass das Urteil wegen Körperverletzung neu aufgerollt werden muss. Sondern ein Verfahrensfehler: Nachdem die Verteidigung einen Antrag auf Befangenheit gegen den Richter gestellt hatte, war dieser selbst an der Entscheidung beteiligt, diesen abzulehnen. Revision gegen das Urteil hatte aber auch Boatengs Ex-Partnerin eingelegt, die als Nebenklägerin auftritt.
Boateng und Lenhardt: Der Spiegel schreibt von "Inneneinsichten einer toxischen Beziehung"
Eine andere Ex-Partnerin Boatengs kann sich nicht mehr zu Wort melden, sie ist tot. Kasia Lenhardt hat sich am 9. Februar 2021 mutmaßlich das Leben genommen, mit 25 Jahren. Sieben Tage zuvor hatte Boateng in der Bild ein Interview gegeben, in dem er behauptet hatte, sie habe ihn erpresst. Der Titel: "Meine Ex wollte mich zerstören". Im Spiegel erschien im Sommer 2021 ein ausführlicher Bericht über die Beziehung zwischen dem Model und dem Fußball-Star, der mit "Inneneinsichten einer toxischen Beziehung" übertitelt ist. In dem Bericht kommt die Mutter von Lenhardt zu Wort, ebenso wie Nachrichten und Sprachnachrichten. In dem Text wird ein System von Macht, Einschüchterung und Schweigegeld nachgezeichnet. So unterschrieb Lenhardt noch am 25. Januar 2021 eine Verschwiegenheitsvereinbarung, in der sie sich dazu verpflichtete, nie über die Beziehung mit ihm zu reden. Ob Geld geflossen ist, ist nicht bekannt, sehr wohl aber das: Am 2. Februar erschien das Interview von Boateng in der Bild, auf das Lenhardt nicht mehr reagieren konnte. Am 9. Februar fand man das Model tot in einer Berliner Wohnung.
Dass Spielerfrauen nach dem Ende der Beziehung mit Knebelverträgen zum Schweigen gebracht werden, ist offenbar eine Methode im Profi-Fußball. Eine groß angelegte Recherche von SZ und Correctiv aus dem Jahr 2022 ging den Schilderungen von neun Ex-Frauen und -Freundinnen von Profi-Fußballern nach.Die Angst sitzt tief, trotz teils erdrückender Beweislast. "Mein Ex kann mein Leben zerstören", sagt eine.
Und Boateng? Da soll alsbald, so Sportdirektor Christoph Freund, eine Entscheidung fallen. Also sportlich. Juristisch gilt ja bekanntermaßen die Unschuldsvermutung. Findet auch Trainer Thomas Tuchel: "Weil das auch so ist, haben wir als Fußball-Klub das Recht, Fußball-Entscheidungen zu treffen."
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