Niklas Dorsch sprintete über das halbe Feld, um diesem Ball hinterherzujagen. In der Nachspielzeit hatte der FC Augsburg im Angriff einen Ballverlust produziert, nun lief der schnelle Gegenangriff des VfB Stuttgart. Alle waren ausgespielt, die lärmende Masse der über 55.000 Fans hatte schon den Torschrei auf den Lippen. Doch auf der Torlinie stand noch jemand. Dorsch, der diesen Ball einfach nicht verloren geben wollte, lenkte den Torschuss von Chris Führich akrobatisch am Pfosten vorbei ins Toraus.
Anschließend zeigte er eine Reaktion, die Raum zur Interpretation lässt. Dorsch schaute Richtung FCA-Bank, machte eine Handbewegung und schrie etwas. War es Wut oder Enttäuschung? Auf seinem Instagram-Account sieht man ein wutschnaubendes Smiley. Ist damit die Niederlage gemeint? Oder doch seine persönliche Situation? Jedenfalls hatte der Mittelfeldspieler Anlass, nicht unbedingt bestens gelaunt zu sein. Erst in der 86. Spielminute, beim Stand von 2:3, hatte FCA-Trainer Markus Weinzierl den 24-Jährigen eingewechselt. Als letzten von fünf möglichen Ersatzspielern.
Dorsch sitzt gegen Stuttgart fast das gesamte Spiel auf der Ersatzbank
Schon allein die Tatsache, dass Dorsch auf der Ersatzbank Platz nehmen musste, wirkte ein Stück weit überraschend. Weinzierl hatte Carlos Gruezo auf der "Sechser"-Position den Vorzug gegeben. Im Nachgang der Partie äußerte sich der Trainer knapp zu seinen Gedankengängen bei der Aufstellung. "Carlos hat in Bielefeld ein gutes Spiel gemacht. Deshalb haben wir uns für Carlos Gruezo entschieden." Dorsch hatte der FCA im Sommer geholt, nachdem dieser mit der deutschen U21-Nationalmannschaft den Titel geholt hatte. Weinzierl und Sportgeschäftsführer Stefan Reuter freuten sich, den Spieler trotz Konkurrenz für sich gewonnen zu haben. Mit ihm hofften sie einen künftigen Führungsspieler im Mittelfeld gefunden zu haben. Obendrein harmoniert er mit Leihspieler Arne Maier, der mit Dorsch schon in der U21 ein ergänzendes Mittelfeldduo gebildet hat.
FCA-Trainer Markus Weinzierl wechselt Niklas Dorsch erst kurz vor Schluss ein
Vor dem Spiel in Stuttgart hatte Dorsch im Gespräch mit unserer Redaktion noch davon berichtet, wie er seine Rolle interpretiert. "Führungsspieler zeigen sich nicht nur in den Spielen, sondern auch unter der Woche im Training und in der Kabine. Da bringe ich mich ein und versuche, Verantwortung zu übernehmen", sagte er. Dabei klang er, als gehe er fest von seinem Einsatz gegen den VfB Stuttgart aus. Doch Weinzierl verzichtete darauf. Nicht nur vom Anpfiff weg. Selbst während der Partie, als der Trainer seine ersten Wechsel vornahm, blieb Dorsch lange Zeit nur die Zuschauerrolle. So rückte zwischenzeitlich Mads Pedersen, nominell auf der linken Außenbahn zu Hause, ins defensive Mittelfeld.
Derweil hätte es Möglichkeiten gegeben, als Trainer auf die Partie einzuwirken. Schon in der ersten Spielhälfte entwickelten die Stuttgarter immensen Druck. In keiner Sequenz des Spiels schafften die Augsburger einen Druckausgleich. Die Entlastung fehlte, weil die taktische Ausrichtung ihre Schwächen offenbarte. Das räumte auch FCA-Sportchef Reuter ein, als er nach der Niederlage im Bauch der Mercedes-Benz-Arena seine Sicht schilderte: "Wir haben uns schwergetan, die Innenverteidiger anzulaufen. Wir haben sie zu viel von hinten raus spielen lassen müssen. Wir hätten mehr Druck machen müssen, damit sie mehr schlagen müssen." Doch mit der personellen Unwucht auf Augsburger Seite war das nicht zu machen.
Reuter: Dorsch spielte nicht, weil Weinzierl auf die siegrieche Elf aus dem Bielefeld-Spiel setzte
Weinzierl stabilisierte die letzte Abwehrreihe mit drei Innen- und zwei Außenverteidigern. Das erschwerte Stuttgarts Angreifern, allen voran Sasa Kalajdzic, das Eindringen in den Strafraum. Andererseits fehlte dem FCA durch die Fünferabwehrkette ein zusätzlicher Spieler in Mittelfeld und Sturm, der die VfB-Aufbauspieler in ihrem Wirkungskreis einengte. Wenn Weinzierl wechselte, tat er das positionsbezogen. Womöglich wäre die Umstellung auf eine Viererkette aber entscheidender gewesen, um den Druck der Stuttgarter weiter weg vom eigenen Tor zu halten. Ein gestärktes Mittelfeld hätte zu lang geschlagenen Bällen gezwungen. Die Standardsituationen, die zu den Gegentoren führten, waren die logische Folge des permanenten Verteidigens der Augsburger. Reuter wollte nicht konkret darauf eingehen, wie man den Gegnerdruck hätte mindern können. Man müsse das analysieren, meinte er. Dass Dorsch nicht spielte, begründete der 55-Jährige damit, dass Weinzierl der erfolgreichen Elf aus dem Spiel gegen Bielefeld (1:0) vertraute.
Doch es wäre sehr verwunderlich, würde Dorsch nach der Länderspielpause gegen den VfL Wolfsburg (Sonntag, 3. April, 15.30 Uhr) erneut in der Startelf fehlen. Allein sein Sprint und die Rettungsaktion in Stuttgart haben gezeigt, was der Spieler dem FCA geben kann.