Selbst die eingefleischtesten Fans reiben sich in diesen Tagen verwundert die Augen. Der FC St. Pauli, lange Zeit bundesweit als sympathischer Chaos-Klub etikettiert, wandelt sich immer mehr zum seriösen Erfolgsgebilde. Die latente Angst vor der Insolvenz ist Vergangenheit, die triste Regionalligazeit seit dem Sommer 2007 überwunden. Sogar während der Länderspielpause gelang es dem Verein, seinem Anhang neue Höhepunkte zu liefern. Nach dem erfolgreichsten Saisonstart aller Zeiten, dem Höhenflug zu den Aufstiegsrängen und gleichermaßen ambitioniertem wie attraktivem Fußball wurde nun abseits des Platzes gejubelt.
Mit dem Abriss der Haupttribüne wurde gerade der zweite von vier Bauabschnitten am Millerntor-Stadion eingeleitet. 19 Millionen Euro kosten die neuen Ränge, auf denen im Sommer neben 2600 Sitzplätzen, 1800 Business-Seats und 20 Logen auch eine Kindertagesstätte der Pestalozzi-Stiftung einziehen wird.
Das erfolgreichste Jahr der Vereinsgeschichte
Das "Piraten-Nest" steht als jüngstes Sinnbild für den etwas anderen Verein, dessen homosexueller Präsident es sich nicht nehmen ließ, wie schon bei der Südtribüne im Dezember 2006 die ersten Abbrucharbeiten höchstselbst hinter dem Bagger zu übernehmen. Die Hamburger bleiben sich treu und beschreiten damit weiter ihren Sonderweg zwischen Kult und Kommerz. Ohne Bauhelm verkündete Corny Littmann gerade auf der wohl ruhigsten Mitgliederversammlung aller Zeiten das mit einem Erlös von 1,12 Millionen Euro wirtschaftlich erfolgreichste Jahr der Vereinsgeschichte. "Es geht uns bestens. Sportlich, wirtschaftlich und im Verein", berichtete der 56-Jährige stolz.
Das Spieljahr 2009/2010 wird - das steht bereits jetzt fest - als Saison der Superlative in der Chronik Einzug finden, zumal Marius Ebbers am fünften Spieltag St. Paulis 1000. Zweitligator gelungen war und beim vergangenen 2:1-Sieg gegen Fortuna Düsseldorf die 1000-Punkte-Marke geknackt wurde. Seit fünf Partien ist die Elf von Trainer Holger Stanislawski unbesiegt, seit 57 Punktspielen gab es kein 0:0 mehr. Diese Erfolgsgeschichte trübt seit gestern allerdings das Eingeständnis von Abwehrspieler Andreas Biermann, der nach einem Selbstmordversuch wegen Depressionen im Krankenhaus liegt (siehe überregionaler Sport).
Trotzdem soll die Rekordserie der Paulianer ausgebaut werden. "Im Defensivbereich werden wir die Schwachstellen aufdecken. Aber wir müssen den Augsburger Angriff in den Griff bekommen. Das wird der entscheidende Punkt. Alle Offensivspieler des FCA haben Erstliganiveau", sagt Mittelfeldspieler Florian Bruns, der als festes Mitglied der offensiven Dreierreihe hinter Stoßstürmer Ebbers den mit 28 Treffern besten Angriff der Liga ankurbelt. "Wir sollten nicht übermütig werden", weiß Littmann, "aber träumen dürfen wir schon ein wenig. Vom Aufstieg, vom schönsten Stadion Deutschlands und einem Stadtderby gegen den HSV."