Als es an diesem Donnerstagmorgen im September an der Haustür von Marion Schönle klingelt, weiß die 50-Jährige sofort: Da ist was nicht in Ordnung. Die Tür zum Zimmer ihres Sohnes Simon steht offen. Das Bett mit der FCA-Bettwäsche ist unbenutzt.
Irgendwann um Mitternacht herum hat sich der 19-Jährige zum letzten Mal gemeldet. Von der Heimfahrt vom Spiel des FC Augsburg in Mönchengladbach. Ein Freund hatte sich den Dienst-Passat des Vaters ausgeliehen. Zu fünft hatten sich die FCA-Fans auf den Weg an den Niederrhein gemacht.
Als Zehnjähriger hatte Simon sein erstes FCA-Spiel gesehen. „Ich weiß nur noch, das war gegen Aue und es war sehr kalt. Simon hatte die Karte geschenkt bekommen. Von da an war er FCA-infiziert“, erinnert sich Marion Schönle. Simon sparte jeden Cent, trug Zeitungen aus, damit er sich eine Dauerkarte kaufen konnte. Er wuchs in die harte Fanszene hinein. Die Ultras faszinierten ihn. Dort wollte er hin, er löcherte seine Mutter, und irgendwann gab sie nach. „Von da an war er glücklich.“
Am liebsten arbeitete Simon an Choreografien zu den FCA-Spielen mit
Simon versuchte, zu jedem Auswärtsspiel mitzufahren, wenn es seine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik erlaubte. Er ist in die Szene integriert, beliebt, aber gehört keiner Gruppierung an. Der Polizei ist sein Name unbekannt. Am liebsten arbeitet er an den Choreografien mit, da lebt er seine Kreativität aus.
In Gladbach verliert der Bundesligist an jenem Mittwochabend 2:4. Es ist der 23. September 2015. Marion Schönle denkt sich nichts, als sich Simon nach Mitternacht nicht mehr meldet. Vielleicht ist ja, wie schon öfter, sein Handyakku leer.
Doch als sie am nächsten Morgen die Tür öffnet, ist ihr sofort klar: Da ist etwas passiert. Zwei Polizisten, eine Beamtin und ein Beamter, stehen ihr gegenüber. „Die Frau hat mir gesagt, dass mein Sohn mit seinen Freunden einen schweren Unfall gehabt hat. Zwei sind gestorben. Simon liegt schwer verletzt auf der Intensivstation in Ludwigshafen.“
Neun Monate später sitzt Marion Schönle in den Räumen des Fan-Projektes im Kulturpark West. Zuerst hat sie gezögert, ob sie die Geschichte ihres Sohnes erzählen soll. Zwei Vertraute aus der Ultra-Szene und Simons Stiefvater sind beim Interview dabei. Erich Kulp und Schönle leben getrennt, doch für Simon ist er eine ganz wichtige Bezugsperson. Das Verhältnis zum leiblichen Vater bezeichnet Marion Schönle selbst als „schlecht“. Die Begleitung gibt ihr Sicherheit.
Erstmals spricht seine Mutter über den Unfall von FCA-Fan Simon
Sie will sich bei allen bedanken, die sie bisher unterstützt haben. Sie will aber auch über das Gemeinschaftsdenken, die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Ultra-Szene reden, die sie so nie erwartet hätte. Wenige Tage nach dem Unfall gedenken die Fans ihrer verunglückten Kameraden mit einer bewegenden Trauerfeier im Stadion. Auch Monate später ist keiner der fünf vergessen. Besonders Simon nicht.
Darum spricht sie jetzt eine Stunde über den Unfall, der alles verändert hat. Die anderen Unfallbeteiligten oder deren Hinterbliebene wählen einen anderen Weg der Bewältigung. Sie äußern sich in der Öffentlichkeit nicht.
Ob ihr Leben und das ihres Sohnes jemals wieder so wird wie früher, weiß Schönle nicht. „Simon ist derzeit in einem Zustand stark verminderter Aufnahmefähigkeit“, erklärt sie. Sein Gehirn ist geschädigt. Es ist, als wenn bei einem Computer die Festplatte gelöscht wurde. Die gespeicherten Daten können nicht genutzt werden, sind aber noch vorhanden und müssen mühsam rekonstruiert werden. Wie viele wieder aktiviert werden können, steht noch nicht fest.
Das alles weiß Schönle an diesem Donnerstag an ihrer Haustür nicht. Sie hört die Stimmen der Beamten wie durch einen Nebel. „Man denkt, das kann nicht sein. Man steht vollkommen neben sich.“ Die Polizisten geben ihr die Telefonnummer der Intensivstation.
Wie genau es zu dem Unfall kam, wird wohl nie ganz herauskommen
Was in dieser Nacht um 1.50 Uhr auf der Autobahn 61 zwischen Speyer und Ludwigshafen geschah, ist für die Staatsanwaltschaft Frankenthal schwer zu rekonstruieren. Augenzeugen gibt es keine, zwei der fünf Insassen sind tot, Simon kann (noch) nicht aussagen. Die beiden anderen Überlebenden können keine Angaben zum Unfallhergang machen. Sie haben wohl geschlafen. Ihnen geht es inzwischen wieder besser. Körperlich haben sie keine Folgeschäden zu befürchten.
Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass der Fahrer kurz eingenickt und darum das Auto mit großer Wucht unter den Auflieger des Sattelzuges gefahren ist. Alkohol oder Drogen seien nicht im Spiel gewesen, sagt der leitende Staatsanwalt Hubert Ströber. Das Dach des Passats wurde bis zur Mitte eingedrückt. Der Lkw war vorschriftsmäßig mit rund 80 km/h auf der rechten Fahrspur unterwegs. Die Ermittlungen gegen den Lkw-Fahrer ergeben keine Hinweise auf ein Fehlverhalten. Der Fall wird im April abgeschlossen.
Marion Schönle lässt sich sofort von ihrem Freund nach Ludwigshafen fahren. Auch ihr älterer Sohn Maximilian, 25, und dessen Freundin sowie Simons Stiefvater machen sich gleich auf den Weg.
Als sie Simon auf der Intensivstation liegen sieht, ist sie zuerst überrascht. „Er hatte keine Schrammen, keine Platzwunden.“ Doch Simon hat schwere Gehirnverletzungen, die äußerlich nicht sichtbar sind, er schwebt zwischen Leben und Tod. Zweimal bereiten die Ärzte sie darauf vor, dass er die nächsten Stunden nicht überleben wird.
Sein Gehirn schwillt an, ein Teil der Schädeldecke wird entfernt, um den Druck zu mindern. Später wird er operiert, damit das Hirnwasser besser ablaufen kann. Die Schädeldecke wird ihm dabei wieder eingesetzt. Simon überlebt die Eingriffe. „Er ist ein Kämpfer“, sagt seine Mutter. Sieben Wochen wird er vor Ort behandelt. Schönle, die als Chemielaborantin auf einem Münchner Wertstoffhof arbeitet, weicht ihm nicht von der Seite. Ihr Arbeitgeber, der Abfallwirtschaftsbetrieb München, stellt sie frei.
FCA zahlt Hotelrechnungen von Simons Mutter
Schon während der Wochen in Ludwigshafen setzt eine Welle der Hilfsbereitschaft ein. Freunde aus Königsbrunn und aus der Fanszene besuchen Simon, obwohl sie nicht auf die Intensivstation dürfen. Die Ultras schicken Videos mit den Gesängen im Stadion. Darauf stimmen Tausende an: „Auf geht’s Simon, kämpfen und siegen.“ Marion Schönle spielt sie Simon immer wieder vor, während er im Koma liegt.
Und auch der FC Augsburg steht ihnen bei. „Schon am zweiten Tag hat mich Peter Bircks angerufen und mir jegliche Unterstützung zugesagt. „,Alles, was der Bua braucht, bekommt er‘, hat er gesagt“, erzählt Marion Schönle. Der FCA übernimmt Hotelrechnungen.
Bircks, Geschäftsführer für die Finanzen, und Prokurist Michael Ströll helfen mit ihren Kontakten bei Simons Verlegung von Ludwigshafen in die Unfallklinik nach Murnau. Der FCA bürgt zudem für die Kosten des Hubschraubers, der nötig ist, um Simon transportieren zu können. Am 11. November wird Simon nach Murnau geflogen.
Von da an geht es bergauf. Simon lernt, etwa eine Kerze auszublasen. Schönle fährt die 180 Kilometer nach Oberbayern hin und zurück fast jeden Tag, versucht auch wieder zu arbeiten. Ihr Sohn und ihr neuer Freund unterstützen sie. Simons Stiefvater wechselt sich fast täglich bei der Betreuung mit ihr ab. Beide üben mit Simon, bis er sich mit Daumen und Zeigefinger verständlich machen kann. Ein Erfolgserlebnis.
Die Ultra-Szene vergisst Simon nicht. Einige besuchen ihn immer wieder, organisieren Spendenaktionen, veranstalten ein Fußballturnier, bei dem auch an die beiden Getöteten erinnert wird. „Dass das so ein Netzwerk, so ein Zusammenhalt ist, war mir gar nicht bewusst. Ich hab gewusst, da geht er hin, da hat er seine Kumpels, aber dass die so zu ihm stehen und er so beliebt ist, war mir nicht bewusst“, imponiert Schönle die Hilfsbereitschaft.
FCA-Spieler Tobi Werner besucht Simon in der Klinik
Vier Monate später, am 15. März, kommt Simon nach Burgau, in die Spezialklinik für Hirngeschädigte. Einen Tag vor der Verlegung besucht ihn Tobias Werner noch in Murnau. Simons Mutter ist begeistert, wie unvoreingenommen der FCA-Profi mit ihrem Sohn umgeht. „Viele haben Berührungsängste, wenn einer so dasitzt, und es läuft ihm die Spucke aus dem Mund. Er hat ihn in den Arm genommen, er hat ihm ein Trikot mitgebracht und ganz normal mit ihm geredet. Man hat gesehen, dass der Besuch Simon aufgewühlt hat.“ Auch Werner ist beeindruckt. „Ich hatte immer mal wieder nachgefragt, wie es ihm geht. Und dann hatte ich die Möglichkeit, ihn zu besuchen. Ich wusste, dass ich meine Betroffenheit nicht zeigen durfte. Ich werde ihn auf jeden Fall wieder besuchen“, sagt der zweifache Familienvater.
Mitglieder der Ultras leisten Simon in Burgau immer wieder Gesellschaft. Auf die Hardcore-Fans des FCA lässt Marion Schönle nichts kommen, auch wenn sie weiß, dass diese auch anders sein können. Dass sich einige von ihnen mit rivalisierenden Fans prügeln und sich auch mit der Polizei anlegen. „Jeder, der etwas Negatives über die Jungs sagt, bekommt es mit mir zu tun. Ich weiß nicht, wo es so viel Unterstützung gibt für jemanden, der Hilfe braucht.“
Zweimal war Schönle seit dem Unfall im Stadion. „Jetzt weiß ich, warum Simon da hingeht. Das reißt dich einfach mit.“ Sie ist überwältigt, als beim Pokalspiel gegen Dortmund die 8000 Fans im Stehplatzbereich kleine Plakate mit der Aufschrift „Kämpfen Simon“ hochheben und dann „Auf geht’s Simon, kämpfen und siegen“ singen. „Da reißt es dir die Füße weg.“ Diese Eindrücke geben ihr Kraft für den Alltag, der sie oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt. Viele Fragen sind offen. Wie lange darf Simon in Burgau bleiben? Wie lange zahlt die Krankenkasse die Behandlung? Wie weit kann Simon in ein normales Leben zurückkehren?
Trotz aller Sorgen hat sie Simons Fußball- und FCA-Leidenschaft nie verflucht. „Ich hab noch keine Sekunde gedacht: Wäre er doch nicht zu diesem blöden Spiel gefahren. Noch keine Sekunde. Das war Simons Lebensinhalt. Man kann Kinder nicht anbinden oder einsperren. Der Unfall hätte auch auf dem Weg zurück von einem Konzert passieren können. Er war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Das hat mit Fußball nichts zu tun.“ Zurzeit sucht sie Menschen, die Simon für ein paar Stunden in Burgau besuchen. Für ihn da sind, während sie und sein Stiefvater arbeiten müssen. Ohne dessen Hilfe wäre Simons Pflege kaum zu schaffen. „Es würde mir Sicherheit geben, wenn ich weiß, Simon hat jemanden an seiner Seite, der ihm das Radio ein- und ausschaltet oder ihn im Rollstuhl mal rausfährt.“
FCA-Fan Simon macht in der Reha große Fortschritte
Seit drei Monaten wird Simon in Burgau behandelt. Schönle ist begeistert. Ihr Sohn mache große Fortschritte: „Die Einrichtung ist ausgezeichnet. Wenn man mit ihm spricht, versteht er alles. Er nickt oder er schüttelt den Kopf. Dazu brummt er, und manchmal sagt er auch Ja und Nein. Er erinnert sich an alles. Er kann es nur noch nicht richtig umsetzen.“ Auch die körperlichen Funktionen kehren langsam zurück. Er kann den Kopf selbstständig nach oben heben. Eine wichtige Funktion, um das Stehen und Gehen wieder zu lernen.
Doch jetzt hat Marion Schönle Angst, dass Simon die Einrichtung vielleicht verlassen muss. Die neurologische Rehabilitation wird in mehrere Phasen eingeteilt. Simon hat aus Sicht der Klinik die Phase B, deren Finanzierung durch die Krankenkasse gesichert war, beendet. Jetzt steht die Übernahme der Kosten der weiteren Therapie in Burgau auf wackligen Füßen. Sie wird alle vier Wochen überprüft. Schönle befürchtet, dass Simon vielleicht in eine weit entfernte Klinik verlegt wird. Diese neue Ungewissheit saugt viel Kraft aus ihrem Körper.
Dann zieht sie sich an den Mandichosee im Augsburger Süden zurück, versucht den „Akku aufzuladen“. Mut machen ihr auch immer wieder überraschende Aktionen der Ultras. Am letzten Saisonspieltag verzichtet einer von ihnen auf den Besuch im Stadion. Er verfolgt mit Simon das Spiel gegen den Hamburger SV in Burgau am Fernseher. Da sieht Simon, wie am Ende die komplette FCA-Mannschaft das große Plakat mit der Aufschrift „Simon, du wirst siegen!“ durch die Arena trägt. Es wühlt ihn auf.
Der FCA und seine Fans, ist sich Schönle sicher, „geben ihm den Rückhalt, den er braucht“. Darum tut sie alles, damit Simon bald wieder ein Spiel live sehen kann. „Er vermisst die Stadion-Atmosphäre. Wenn er merkt, dass er da wieder dabei ist, wird ihm das einen Schub geben.“ Einen weiteren Schub auf dem langen Weg zurück.