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EM 2024: Was nach dem Aus der Deutschen bleibt

Fußball-EM 2024

Die Lehren aus der Fußball-EM 2024: Voll was ausgelöst

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    Fans begrüßen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nach dem verlorenen Viertelfinale in Herzogenaurach.
    Fans begrüßen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nach dem verlorenen Viertelfinale in Herzogenaurach. Foto: Federico Gambarini, dpa

    So endet also diese Klassenfahrt. Jamal Musiala sitzt zusammen mit Sandro Wagner in der geöffneten Gepäckklappe des Busses und redet. Womöglich über die 119. Spielminute. Vielleicht auch über die 106. Eventuell über das komplette Spiel oder auch die vergangenen sechs Wochen. Unter Umständen besprechen sie auch die endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Derweil schaut Leroy Sané an diesem Freitagabend in den Sternenhimmel. Der diesmal allerdings kein Sternenhimmel, Sternenhimmel, oho ist. Sondern nur der von der Stuttgarter Arena beleuchtete Nachthimmel. Sané dürfte wohl nicht an Hubert Kah denken, der einst diesen Sternenhimmel besang. Der Nationalspieler sinniert wahrscheinlich eher darüber, warum dieses Spiel so gelaufen ist, wie es gelaufen ist. Außerdem kennt Leroy Sané wohl Hubert Kah gar nicht. Vor dieser Fußball-Europameisterschaft kannte er allerdings auch keinen Mann namens Peter Schilling. Und der kommt nun 41 Jahre nach der Veröffentlichung seines völlig losgelösten Major Tom zu späten Ehren. Hymne der Europameisterschaft. Zumindest aus deutscher Sicht.

    Aus deutscher Sicht ist diese Europameisterschaft vorbei – zumindest für das deutsche Team. Beendet von einem Mann namens Mikel Merino. Der Spanier köpfte den Ball in der 119. Minute rücksichtslos in Manuel Neuers Tor und Deutschlands Partystimmung. Hätte ja alles anders kommen können, wenn dieser garstige englische Schiedsrichter in der 106. Minute einfach Gebrauch von seiner Pfeife gemacht hätte. Tat Anthony Taylor aber nicht, als dem Spanier Marc Cucurella von Musiala der Ball an die Hand geschossen wurde. Spanien im Halbfinale, Deutschland raus. Davon aber lässt sich kein Stadion-DJ nachhaltig beeindrucken. Der Stuttgarter Stimmungsverantwortliche erdreistet sich, wenige Minuten nach Spielschluss, Major Tom ein letztes Mal völlig losgelöst durchs Stadion ballern zu lassen. Die deutschen Spieler aber sind völlig niedergeschlagen.

    Anders als zuletzt in Katar, in Russland oder nach der halbgaren paneuropäischen Corona-EM sind sie diesmal nicht enttäuscht von sich selbst und ihren eigenen amorphen Leistungen. Es ist die tiefe Trauer, ein sportliches Ziel verpasst zu haben, obwohl man sich komplett verausgabt hat. In einigen Wochen wird sich dieses jäh beendete Turnier als weit zufriedenstellender herausstellen als die vorherigen. In einigen Wochen aber beginnt auch schon wieder die Bundesliga. Und in einigen Wochen wird zu sehen sein, ob diese Europameisterschaft möglicherweise ja wirklich eine Wirkung hat, wie sie sich Julian Nagelsmann wünscht. „Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen“, sagt der Bundestrainer am Tag nach dem Aus. „Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, die Symbiose in weit wichtigeren Bereichen fortzusetzen.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wann, wenn nicht nach derart emotionalen Wochen, ist sie denn sonst erlaubt?

    Nach dem Viertelfinal-Aus empfangen Fans die deutsche Nationalmannschaft in Herzogenaurach.
    Nach dem Viertelfinal-Aus empfangen Fans die deutsche Nationalmannschaft in Herzogenaurach. Foto: Federico Gambarini, dpa

    Auch am Samstag kämpft der Bundestrainer immer wieder mit den Tränen, als er zusammen mit Sportdirektor und DFB-Präsident Bernd Neuendorf vor den Medien ein Resümee des Turniers ziehen soll. Schon unmittelbar nach dem Spiel zeigte sich Nagelsmann sehr angefasst. Der Kampf mit den Tränen: Er verlor ihn kurzzeitig. Und am Samstag gleich nochmal. Männer weinen eben nicht nur heimlich. Männer sind so verletzlich. Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich. Wann ist ein Mann ein Mann? Nicht nur, wenn er Europameister wird. Einmal in Fahrt, grundsatzredet Nagelsmann der Bevölkerung gleich ins Gewissen. Zusammenhalt! Gemeinsinn! Das eigene Glück schätzen!

    Die EM ist noch nicht vorbei – auch wenn es sich für viele Fans so anfühlt

    Zu einem darf man das eigene Land, schon eine Woche vor Ende des Turniers, dann doch beglückwünschen: Die Deutschen haben sich als formidable Gastgeber präsentiert. Von den ganzen hinlänglich bekannten infrastrukturellen Problemen mal abgesehen. Aber wer braucht schon ein funktionierendes Wlan, wenn es Wusiala gibt? Also jene Kombination aus Musiala und Wirtz, dem großen – und schon teilweise eingelösten – Versprechen des deutschen Fußballs. Und wer braucht schon eine funktionierende Bahn, wenn am Ende dann doch alle fanmarschig das Stadion erreichen? Am beeindruckendsten die Holländer, die sich einen Spaß daraus machen, nach dem Kommando eines Partyhits naar links und naar rechts zu hüpfen. Beeindruckend. Aber mal kurzer Gesellschaftsabgleich: Hüpft denn überhaupt noch wer nach links und hüpfen nicht die allermeisten nach rechts? Geert Wilders lässt grüßen. Am Mittwoch hüpfen die Holländer ins Dortmunder Stadion. Halbfinale. Die EM ist noch nicht vorbei – auch wenn es sich für viele Fans so anfühlt.

    Die deutsche Mannschaft jedenfalls hat ihren Fans wunderbare Wochen beschert. Das ist schon einmal viel mehr, als sich vor wenigen Monaten erwarten ließ. Dass sich dann doch wieder derart viele Anhänger hinter dem einstmals liebsten Kind versammelten, überraschte auch das Online-Vergleichsportal Check24. Dort wurde jedem, der sich registriert, ein Deutschland-Shirt versprochen. Pikanterweise von Puma hergestellt und somit vom kleinen Bruder des Noch-DFB-Sponsors Adidas. Über fünf Millionen Trikots versandte das Portal insgesamt. Stadien und Fanzonen waren geflutet von wandelnden Vergleichsportalen. Bis zum nächsten Turnier können die Dinger als Schlafshirts genutzt werden. Dann sollen sie wieder herausgeholt werden, wenn es nach Nagelsmann geht. Kein Bundestrainer, der rhetorisch mit derart natürlicher Präzision formuliert. „Das tut weh und auch, dass man zwei Jahre warten muss, dass man Weltmeister wird, tut auch weh.“ Bamm. Weltmeister. Check26!

    Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft bei der Abschluss-Pressekonferenz mit den Tränen.
    Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft bei der Abschluss-Pressekonferenz mit den Tränen. Foto: Christian Charisius, dpa

    Bis dahin bleiben Erinnerungen. Den Spielern, wie den Fans. Von Seiten der Akteure war oft zu hören, das vorgelagerte Trainingslager in Blankenhain sowie die Zeit im sogenannten Team Base Camp in Herzogenaurach habe sich wie eine Klassenfahrt angefühlt. Dementsprechend hatten etliche Spieler nicht nur nach dem Spiel gegen Spanien Tränen in den Augen, sondern mussten auch weinen, als sie ihren Campus in Herzogenaurach verließen, berichtet Nagelsmann. Als letzter Spieler verließ Ilkay Gündogan das Gelände. Der Kapitän. Und weil es ja immer noch bemerkenswert ist: erster türkischstämmiger Kapitän einer deutschen Nationalmannschaft. Dazu noch die gar nicht biodeutschkartoffeligen Jonathan Tah, Antonio Rüdiger, Deniz Undav und Jamal Musiala. Ihr Auftritt in den pinken Trikots: Provokation für manch altgermanisches Herz.

    So zugewandt zeigte sich schon lange keine Nationalmannschaft mehr

    Provozieren allerdings mochte dieses Team so gar nicht. Viel mehr zeigte es sich offen und zugewandt, wie schon lange keine deutsche Nationalmannschaft mehr. Rudi Völler betonte bei der Abschlusskonferenz, dass dafür nicht vermehrte und verordnete öffentliche Trainingseinheiten verantwortlich sind, sondern dass diese Mannschaft von sich aus gerne in Kontakt tritt. Und so versicherten unter anderem Nagelsmann und Stürmer Niclas Füllkrug glaubhaft, dass sie all die Videos von den Fanzonen, Fanmärschen und anderweitigen Partys mit Gänsehaut angeschaut hätten. Football, bloody hell! Sagte einst Manchester-Trainer Sir Alex Ferguson. Dieser Fußball vermag seine Magie immer noch zu versprühen. Im Stadion, wenn nur durch ein Wunder die Dachkonstruktion des Stuttgarter Stadions beim Torschrei nach Wirtz‘ Treffer sich nicht gen Umlaufbahn verabschiedet. Außerhalb der Arenen, wenn ein Saxophonist Abertausende aber wirklich völlig losgelöst tanzen und singen lässt. Football, bloody hell!

    Zu gerne würde Adidas weiter von dieser wieder sympathischen und spielstarken deutschen Mannschaft profitieren. Der DFB hat sich anders entschieden. So hat die deutsche Mannschaft nun wohl zum letzten Mal den Homeground in Herzogenaurach bezogen. Dieses kleine Dorf eines internationalen Sportartikelriesen. Eine mittelfränkische Kleinstadt als Vorbild für Deutschland. Ab 2027 aber: Just do it! Nike wird dann Sponsor des DFB. Die US-Amerikaner hatten schlicht das finanziell viel bessere Angebot abgegeben, die WM 2026 findet unter anderem in den USA statt. Dann bestreitet die deutsche Nationalmannschaft letztmals ein Turnier in den dreigestreiften Trikots. Adidas hätte gewiss nichts dagegen, dass die DFB-Elf im Land des großen Sportartikel-Konkurrenten den Titel holt. Man kann klagen über den Wechsel, oder das Beste daraus machen. Oder wie es Nagelsmann sagt: „Wir haben Probleme in unserem Land. Wir können aber auch mal in Lösungen denken.“ Der Bundestrainer als Bundesmotivator.

    So wie er es beispielsweise beim Achtelfinale in Dortmund tat, als es so derartig blitzte und schüttete, dass zum einen der Schiedsrichter das Spiel unterbrechen musste und zum anderen die deutsche Ingenieursarbeit einen Kunstfehler offenbarte. Der Dortmunder Dachschaden sorgte für lustige Bilder und nasse Zuschauer. Nagelsmann aber haderte nicht, sondern zeigte seinen Spielern während der Unterbrechung Videosequenzen, anhand derer sich das Team um Verbesserung bemühte. Deutschland gewann die Partie und die Herzen jener, die während der Vorrunde noch skeptisch auf die Mannschaft geblickt hatten.

    Achtelfinale in Dortmund, Deutschland gegen Dänemark: Und das Regenwasser ergießt sich ins Stadion.
    Achtelfinale in Dortmund, Deutschland gegen Dänemark: Und das Regenwasser ergießt sich ins Stadion. Foto: Marcus Brandt, dpa

    Dass Nagelsmann nach der Niederlage gegen Spanien sowie einen Tag danach emotional ziemlich gebeutelt war, dürfte die Zuschauer noch näher an die Mannschaft bringen. Da ist nichts mehr völlig losgelöst, nichts mehr irre entkoppelt von der Lebensrealität der Menschen. Ob der Fußball aber nun tatsächlich ein wenig auf die Gesellschaft einwirken kann? Aber natürlich muss der Sport im Allgemeinen diesen Anspruch haben. Der Fußball ist ein kleiner Ausschnitt des Lebens mit großer Bedeutung für viele. Er war es lange Zeit nicht. Dass er es in den vergangenen Wochen wieder geworden ist: gute Voraussetzung für die Zukunft. Zumindest des Fußballs. Er wird nicht die endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest beantworten. Er kann aber immer noch ein Land kurzzeitig mit sich selbst versöhnen. Darauf einen Blick in den Sternenhimmel. Oho.

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